Stepped Care 2.0

Step by Step zurück zur Normalität

Die ambulante Abteilung für Erwachsene im Zentrum ÜBERLEBEN arbeitet mit einem gestuften Behandlungsansatz – „Stepped Care“ – um besonders schutzbedürftigen traumatisierten Menschen genau die Unterstützung zu bieten, die sie benötigen. Doch wie genau kann man sich dieses Behandlungskonzept im Umgang mit Patient:innen vorstellen? Wie erfolgt die wissenschaftliche Evaluation und warum ist sie so wichtig? Hannah Krunke, psychologische Psychotherapeutin in der Erwachsenenambulanz, und Angelika Geiling, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Wissenschaftlichen Abteilung, haben uns diese Fragen im Gespräch beantwortet.

Wenn sich Menschen hilfesuchend an das Zentrum ÜBERLEBEN bzw. die ambulante Abteilung für Erwachsene wenden, ist die erste Stufe in der Regel die Telefonsprechstunde. Dabei werden Anfragen aufgenommen und überlegt, welchen Menschen ein Vorgespräch angeboten werden kann. Wie genau geht es danach für diejenigen weiter, die bei uns als Patient:innen aufgenommen werden?

Hannah Krunke: Aufgrund der Komplexität der Fälle, die im ZÜ bearbeitet werden, nehmen wir uns zu Beginn erstmal 15 therapeutische Sitzungen Zeit, um ein konkretes Bild von Patient:innen und ihren Bedarfen zu erhalten. Dabei erheben wir unter anderem die Hintergründe zur Trauma- und Fluchtgeschichte unserer Patient:innen und versuchen, ein genaues Bild der Symptomatik und Erkrankung (diagnostische Einschätzung) zu bekommen. Es werden auch schon erste stabilisierende Maßnahmen mit den Patient:innen durchgeführt. Zum Ende der 15 Sitzungen entscheiden wir dann gemeinsam mit dem:der Patient:in, ob es darüber hinausgehende Unterstützung braucht und ob wir die Richtigen sind, um den entsprechenden Bedarfen zu begegnen. Insofern ein anhaltender Bedarf besteht, planen wir im Team eine Kurz- oder Langzeittherapie, und bieten außerdem auch Gruppentherapien an.

Die wissenschaftliche Abteilung im Zentrum ÜBERLEBEN begleitet das Therapieangebot, indem Daten gesammelt und wissenschaftlich evaluiert werden. Welche Daten werden hier genau erhoben und was wird dadurch untersucht?

Angelika Geiling: Bei der wissenschaftlichen Evaluation analysieren wir die Daten, die wir im Rahmen der Diagnostik in der Erwachsenenambulanz erheben.[1] Das bedeutet, dass wir Symptome verschiedener psychischer Erkrankungen erfassen – wie zum Beispiel Depression und Posttraumatische Belastungsstörung. Diese Erhebung findet zu Beginn der Behandlung, nach einem halben Jahr und am Ende der Behandlung statt. Dabei sammeln wir auch Daten zu möglichen sogenannten Postmigrationsstressoren, wie etwa die Wohnsituation. Außerdem dokumentieren wir den Bedarf, indem wir festhalten, wie viele Personen sich melden und wie viele letztlich bei uns aufgenommen werden. Die Auswertung der Daten erfolgt in Kooperation mit dem Forschungsteam von Refugio München, da wir die meisten Fragebögen in der Diagnostik parallel erheben und so auch im Rahmen eines ersten Artikels bereits vergleichend analysieren konnten. Perspektivisch möchten wir auch den Verlauf der Symptomschwere genauer untersuchen.

Was für Erkenntnisse konntet ihr bereits aus diesen wissenschaftlichen Recherchen gewinnen?

Angelika Geiling: Zuerst einmal wird deutlich, dass ein extrem hoher Behandlungsbedarf besteht. Wenn wir uns die Anzahl der Anfragen anschauen und diese damit vergleichen, wie viele Menschen wir behandeln können, wird eine große Lücke deutlich. Das bedeutet, dass wir eigentlich sehr viel mehr Behandlungsplätze bräuchten. Es heißt aber vor allem auch, dass Personen, die eine Behandlung benötigen noch längere Wartezeiten haben und sich ihre Erkrankungen potentiell chronifizieren.

Gibt es bestimmte Muster oder Ähnlichkeiten, die sich bei der Diagnose oder dem Behandlungsverlauf anhand der Daten festmachen lassen?

Angelika Geiling: Es ist definitiv erkennbar, dass unsere Patient:innen fast immer eine Posttraumatische Belastungsstörung, oder sogar eine komplexe Posttraumatische Störung aufweisen. Erste vorläufige Ergebnisse unserer Daten belegen außerdem, dass die Belastung im Laufe der Therapie sinkt – und die Therapie daher wirksam ist. Aber weil die Erkrankung oft zu Beginn sehr schwer war, brauchen unsere Patient:innen in einigen Fällen danach noch weitere Unterstützung. Dafür haben wir auch das Angebot einer Nachsorgephase.[2] In weiteren Analysen wäre es wichtig zu untersuchen, inwiefern bestimmte soziodemografische Faktoren und Postmigrationsstressoren mit der psychischen Belastung zusammenhängen und ob es dabei Auswirkungen auf den Therapieverlauf gibt.

Was sind die Vorteile vom Stepped Care Ansatz und warum hat er sich in den letzten Jahren in der ambulanten Abteilung für Erwachsene so gut bewährt?

Hannah Krunke: Die Anzahl an psychisch oder traumareaktiv erkrankten geflüchteten Menschen ist hoch und die ihnen begegnende Versorgungssituation gering. Beim Stepped Care Ansatz können die verschiedenen Bedürfnisse unterschiedlich intensiv und individuell an die Behandlung angepasst werden. So können wir einer hohen Anzahl an Hilfesuchenden mindestens beratend und maximal mit einem gemeinsamen, therapeutisch erfolgreichen Prozess begegnen. Der Stepped Care Ansatz regt außerdem im Therapieverlauf zu ständiger Reflexion an, welche Bedarfe der:die individuelle Patient:in hat und wie der:die Betroffene oder gar ein:e Wartende:r mehr vom Behandlungsangebot profitieren kann. Im Gespräch mit den Patient:innen wird kontinuierlich erörtert, welche Zielsetzungen es gibt. Während des Beratungs- und Behandlungsprozesses gibt es darüber hinaus obligatorische Teamabsprachen, in denen wir uns untereinander austauschen und beratschlagen. Das ist uns sehr wichtig, weil wir dadurch zusätzlich die Qualität des Behandlungsangebots für unsere Patient:innen sicherstellen.

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Das Projekt ‚Stepped Care 2.0 – Weiterentwicklung eines stufenweisen Behandlungskonzepts für besonders Schutzbedürftige‘ wird finanziert von der Europäischen Union.


[1]Die Daten werden pseudonymisiert gespeichert und die Veröffentlichung von Ergebnissen findet ausschließlich zu wissenschaftlichen Zwecken und in anonymisierter Form statt.

[2] Es ist wichtig zu beachten, dass es sich hier um eine hochselektive Stichprobe handelt, weil alle aufgenommenen Personen im Zentrum ÜBERLEBEN Behandlung gesucht und darüber hinaus einen Aufnahmeprozess durchlaufen haben. Außerdem gibt es immer wieder Fälle von Patient:innen, die die Diagnostik im Interview nicht wahrnehmen können, weil sie zu belastet sind.

* Titelbild: Symbobild/Foto anonymisiert

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