Ein Jahr nachdem alles begann – eine politische Bilanz zum Iran

13.9.2023

Mittlerweile ist ein Jahr vergangen seitdem die kurdische Iranerin Mahsa Amini im Alter von nur 22 Jahren verstarb. Sie war zuvor in Teheran von der Sitten- und Religionspolizei festgenommen worden. Der Vorwurf: Sie habe ihr Kopftuch nicht vorschriftsgemäß getragen.

Die iranische Regierung leugnet, dass Amini infolge von Schlägen auf Kopf und Gliedmaßen verstorben ist, wie es in einem Bericht der rechtsmedizinischen Organisation des Iran (IMO) hieß. Ihr Tod löste im Iran und weltweit eine Welle der Empörung aus und führte zu Massenprotesten, in denen insbesondere junge Frauen ihre Stimmen erhoben. Doch wie konnte es so weit kommen? Welche Entwicklungen haben diese Eskalationen herbeigeführt?

Im Interview mit einem Freund des Zentrum ÜBERLEBEN haben wir einen genaueren Blick auf die Menschenrechtslage im Iran geworfen.

Wenn man sich die Proteste und Demonstrationen im Iran im letzten Jahr anschaut, fallen vor allem Emotionen wie Wut und Zorn auf. Wie ist es dazu gekommen, dass sich diese Gefühle bei der Bevölkerung mit so einer Wucht angesammelt haben?

„Um die heutige Lage im Iran zu verstehen, ist es unverzichtbar, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Insbesondere das Jahr 1979 ist dabei entscheidend und stellt eine Kehrtwende in der iranischen Geschichte dar. In diesem Jahr fand die Revolution statt, die die jahrhundertelange Monarchie beendete und das ganze Land von Grund auf veränderte. Doch leider wurde die Revolution von den antirevolutionären und reaktionären Kräften (Islamisten) beschlagnahmt.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts entstanden im Iran verschiedene Gruppen und Bewegungen – Arbeiterbewegungen, Frauenbewegungen und viele andere. Doch diese Bewegungen mit all ihren Errungenschaften wurden nach der Beschlagnahmung der Revolution durch die Islamische Republik Tag für Tag eingeschränkt und verboten, und die Aktivist:innen wurden mit Gewalt unterdrückt und zum Schweigen gebracht. Mit Hilfe der Doktrin des politischen Islams versuchte die Islamische Republik, eine einheitliche Nation unter ihrer Herrschaft zu schaffen und ihre Gegner auszuschalten.“

Welche Maßnahmen hat die iranische Regierung eingeleitet, um diese Vereinheitlichung der Bevölkerung umzusetzen?

„Die Regierung kontrolliert die Medien und auch die Bildung in den Schulen: Die Lehrbücher sind größtenteils von der Doktrin des politischen Islams abgeleitet. Und die Regierung versucht, Kinder und neue Generationen intellektuell im Sinne der Ideologie der herrschenden Klasse zu erziehen. Durch die Reproduktion dieses Denkens versucht die Islamische Republik daher, von Anfang an eine einheitliche Nation zu schaffen. Andere politische Haltungen und Gedanken werden streng unterdrückt. Die Regierung geht sogar so weit, dass sie den Kindern in den Schulen beibringt, zu Hause die Ohren offen zu halten für das, was die Erwachsenen sagen (diese Maßnahme ist bekannt unter dem Namen „Mobilisierung der Schüler“).“

Wie kommt es, dass viele Menschen trotz dieser Bedrohungen nun ihr Leben riskieren, um sich gegen die Regierung aufzulehnen?

„Der Mensch hat einen natürlichen Wunsch nach Freiheit und Wohlstand. Das iranische Volk ist von dieser Regel nicht ausgenommen, und es wird immer diejenigen geben, die bereit sind, alles zu riskieren, um ihre Überzeugungen zu verteidigen. Darüber hinaus haben die schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen und die Kluft zwischen den Klassen dazu geführt, dass die Menschen von der Politik der herrschenden Klasse enttäuscht sind und kein Vertrauen haben, dass diese die bestehende Situation verbessern wird. Die Inflation ist in den letzten Jahren rasant angestiegen. Und ein großer Teil der nach der Revolution entstandenen Mittelschicht fiel aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage in die Unterschicht zurück. Währenddessen wurde die Bourgeoisie durch Embargos, Mieten usw. jeden Tag reicher. Die Lage der Arbeiterklasse ist viel schlechter und ein großer Teil der Arbeiterklasse lebt unterhalb der Armutsgrenze. Hinzu kommt, dass viele der Randgebiete des Landes völlig unterentwickelt sind und keinen Zugang zu hochwertiger Bildung, Beschäftigung und angemessener Gesundheitsversorgung haben. Die meisten Annehmlichkeiten und der größte Wohlstand sind in den großen Städten des Zentrums zu finden. Die Menschen, die sich für ihre Freiheit und ihr Wohlergehen an der Revolution beteiligt hatten, fragen sich seit langem, was sie tun können, um aus dieser Krise herauszukommen. Wie will man ein ganzes Volk unterdrücken, das innerhalb eines Jahrhunderts zwei Revolutionen erlebt hat (Verfassungsrevolution 1909 und Revolution 1979)? Selbst als Regierung mit einem guten Regierungsapparat kann man das nicht.“

 Der Frust hat sich letztes Jahr auch infolge des Todes von Mahsa Amini gezeigt. Ist die Frauenbewegung, die daraus zum Vorschein getreten ist, neu oder gab es schon vorher feministischen Aktivismus im Iran? 

„Die Situation im Iran ist sehr speziell, denn vor der islamischen Revolution hatten die Frauen einige ihrer Ziele und Freiheiten erreicht. Nach der Revolution hatte sich das wieder zurückentwickelt und viele feministische Errungenschaften gingen verloren. Doch obwohl die Menschen unterdrückt wurden, sind ihre Ideen geblieben. Viele Aktivist:innen haben trotz der Gefahren, denen sie ausgesetzt sind, ihre Bemühungen fortgesetzt, um Veränderungen herbeizuführen, einschließlich Untergrundtreffen, Untergrundbuchdruck und Straßenprotesten. Wenn wir einen allgemeinen Blick auf die Vergangenheit werfen, zielten die meisten Aktivitäten früherer Bewegungen auf Reformen und die Schaffung eines offenen politischen und zivilen Raums ab. Mit anderen Worten: Die meisten Slogans, Ziele und Aktionen waren eher reaktionär. Aber wenn wir uns die Proteste im Dezember 2017 und die blutigen Proteste im November 2019 genauer ansehen, werden wir feststellen, dass die Bewegungen radikaler und die Slogans revolutionärer geworden sind – und das war anders als bei allen Protesten gegen das Regime in vier Jahrzehnten. Das Ziel dieser Bewegung und der neuen Generation war die Revolution, nicht die Reform. Und so ist es auch jetzt. Wir haben eine neue und mutige Generation, die die dunklen Jahre der Revolution und die Zerstörung der Städte während des Krieges nicht miterlebt hat und die nicht diese oder jene Opposition im Schatten des Regimes mitverfolgt hat. Diese neue Generation ist müde von der schlechten wirtschaftlichen Situation, einer Atmosphäre der Unterdrückung, Menschenrechtsverletzungen und davon, dass sie keine positiven Aussichten für die Zukunft hat.“

Was ist deine Einschätzung zu den Protesten? Haben sie deiner Meinung nach mehr Potenzial als vergangene politische Bewegungen im Iran?

„Die Bewegung, die letztes Jahr im September angefangen hat, ist definitiv anders als frühere Versuche, etwas an der politischen Situation zu ändern. Dieses Mal haben sich so viele Menschen wie noch nie zuvor mit den Protesten solidarisiert und sind auf die Straßen gegangen. Es war nicht nur eine bestimmte politische Strömung, die daran teilgenommen hat – Linksorientierte, Liberale oder Sozialisten – sondern sämtliche Gruppen durch die gesamte Bevölkerung hinweg. Und insbesondere junge, gebildete Menschen, die zielstrebig sind. Sie wissen, was sie wollen und fordern es ohne Wenn und Aber ein. Auch ihre Parole „Frau, Leben, Freiheit“ spiegelt das wider. Dabei verhalten sie sich auch durchweg gemeinschaftlich, halten zusammen und stärken sich gegenseitig. Ihr Mut und Zusammenhalt geben Hoffnung für die Zukunft.“

Als Team des Zentrum ÜBERLEBEN beobachten wir die Entwicklungen im Iran sehr aufmerksam und solidarisieren uns mit den Protestierenden. Denn viele der Menschen, die bei uns behandelt werden, mussten aufgrund politischer Verfolgung aus dem Iran fliehen und haben dabei schlimmste Erfahrungen durchlebt. Durch unsere Behandlungsangebote möchten wir ihnen helfen, das Vergangene zu verarbeiten und wieder hoffnungsvoll auf ihre Zukunft zu blicken.

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