Newsletter 3/2018 – Interview

„Positive Erlebnisse sind sehr wichtig“

Traumatisierte junge Erwachsene sind eine wenig beachtete Gruppe unter den Geflüchteten. Sie treffen auf ein System, das viel von ihnen verlangt und wenig auf ihre Bedürfnisse eingeht, sagt Katrin Fischer*, Sozialarbeiterin aus der Kinder- und Jugendabteilung im Zentrum ÜBERLEBEN.

Liebe Frau Fischer, mit welchen Erlebnissen und Problemen kommen die jungen Menschen bei Ihnen an?

Tatsächlich ist es so, dass die meisten jungen Erwachsenen schon als Minderjährige bei uns in der Kinder- und Jugendabteilung sind. Sie sind aus ganz unterschiedlichen Gründen geflohen, sei es aufgrund bewaffneter Konflikte, geschlechtsspezifischer Verfolgung oder aus kinderspezifischen Ursachen, wie Zwangsrekrutierung oder familiärer Gewalt. Hinzu kommen dann noch die Erfahrungen auf der Flucht selbst. Die Flucht ohne erwachsene Begleitperson bedeutet, dass die Kinder schutzlos sexueller, körperlicher und ökonomischer Ausbeutung und der Willkür krimineller Banden ausgeliefert sind. Das Gefühl des Kontrollverlusts und der Handlungsunfähigkeit prägt sie nachhaltig. Trotzdem tragen sie eine unfassbare Stärke in sich, sonst hätten sie es gar nicht bis hierher geschafft.

Bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres besteht ein sog. Regelrechtsanspruch auf Unterstützung im Rahmen der Jugendhilfe. Warum ist das für die jungen Erwachsenen so wichtig?

Aufgrund der traumareaktiven Erkrankungen können die Persönlichkeitsentwicklung und die Entwicklung einer eigenverantwortlichen Lebensführung verzögert sein. Die Jugendhilfe liefert ihnen Unterstützung und Vermittlung in der fremden Umgebung im persönlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Bereich. Was die jungen Menschen dringend brauchen, sind ein stabiles Umfeld, verlässliche Ansprechpartner*innen und Vertrauenspersonen, gerade auch in Bezug auf die Asylverfahren. Erst wenn die Lebensumstände einigermaßen stabil sind, macht es wirklich Sinn an der Aufarbeitung des Traumas zu arbeiten. Leider steht das im Widerspruch zum System der Jugendhilfe und zu den Anforderungen, die im Rahmen des Asyl- und Aufenthaltsrechts an die jungen Menschen gestellt werden.

Worin besteht der Widerspruch?

Mit der Volljährigkeit fallen unter Umständen Schutzvorgaben weg, die die Jugendlichen bisher vor der Abschiebung schützten. Für einen Aufenthaltstitel müssen sie nun gute Integrationsleistungen, wie Sprachkurse oder eine Ausbildung vorweisen. Viele sind dazu aufgrund ihrer Erlebnisse schlichtweg nicht in der Lage. Sie haben jahrelang vor und während der Flucht um das Überleben gekämpft und nur „funktioniert“. Nun sollen sie Leistungen erbringen, ohne zu wissen, ob und wie lange sie bleiben dürfen. Woher sollen sie diese Kraft nehmen? Wir brauchen ein System, das sich an den Bedarfen der jungen Menschen orientiert.

Welche Konsequenzen hat das aktuelle System für junge Volljährige im schlimmsten Fall?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Je früher im Leben traumatische Erlebnisse passieren, desto tiefere Spuren können sie hinterlassen, natürlich in Abhängigkeit der vorhandenen Ressourcen. Traumatisierte Kinder können  schon in jungen Jahren traumabedingte Verhaltensweisen wie Albträume, Schlaflosigkeit oder aggressives Verhalten entwickeln. Wenn jemand permanent schlaflos ist, ist er übermüdet, kann sich nicht konzentrieren, bricht körperlich irgendwann zusammen, hat Fehlzeiten in der Ausbildung, verliert den Ausbildungsplatz und fliegt aus der Jugendhilfe raus. Damit kommt er in eine Sammelunterkunft, wird dort auch wieder auffällig und steht somit vor der Obdachlosigkeit. Das ist das Resultat der Diskrepanz zwischen den Anforderungen des Systems einerseits und den Bedürfnissen traumatisierter Menschen andererseits. Im schlimmsten Fall rutschen sie komplett durch das Raster des Systems, das nicht auf sie eingestellt ist. 

Wie gehen Sie in Ihrer Arbeit die Probleme der jungen Erwachsenen an?

In der sozialarbeiterischen Betreuung geht es häufig um die Themen Asylverfahren und Ausbildung sowie um die familiäre und soziale Situation. Die Trennung von der Familie ist für die meisten besonders belastend. Wir arbeiten einerseits an der Stärkung der Ressourcen und andererseits an der Stabilisierung des Umfelds, damit sich die jungen Menschen hier sicher und aufgehoben fühlen. Langsam sollen sie lernen, sich selbst Hilfe zu organisieren und ein verlässliches Netzwerk aufzubauen. Wir versuchen auch das Helfer*innensystem an einen Tisch zu bringen. So können Missverständnisse und Fehlinformationen zwischen Wohnbetreuer*innen, Lehrer*innen, Vormünder und anderen Beteiligten vermieden werden.

Außerhalb des Zentrums versuchen wir die jungen Volljährigen in Sportvereine oder andere Freizeitangebote zu vermitteln und mit ihnen Ausflüge zu unternehmen. Das Schaffen positiver Erlebnisse und die Kontakte untereinander sind sehr wichtig. So entstehen unter unseren Patient*innen sogar neue Freundschaften.

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Foto: Zentrum ÜBERLEBEN
* Name geändert