Interview zum Welttag gegen den Einsatz von Kindersoldat*innen 

Das Trauma eines Kindersoldaten

10.2.2021

In der Kinder- und Jugendabteilung unserer Ambulanz haben Therapeut*innen ehemalige Kindersoldaten behandelt, die gewaltsam rekrutiert und zum Töten gezwungen wurden. Martin Gött, Kinder- und Jugendlichentherapeut erläutert, wie eine Therapie mit diesen komplex traumatisierten Menschen ansetzt.  Schuld und Scham sind dabei ihre zentralen Konfliktthemen. Die Therapie unterstützt, damit diese jungen Menschen wieder zurück ins Leben finden.

Lieber Martin, kannst Du die Patientengeschichte kurz skizzieren. Was ist im Leben dieses Menschen passiert?

Wir hatten einen Jungen, der heute siebzehn Jahre alt ist. Sein Leidensweg begann im Alter von zwölf.  Sein Vater war Polizist in Nigeria und beide Eltern wurden bei einem terroristischen Angriff getötet. Der Junge floh in die Zentralafrikanische Republik, wurde von einer der Kriegsparteien aufgegriffen und vor die Wahl gestellt, entweder zu kämpfen oder zurück nach Nigeria gebracht zu werden. Der Junge hatte große Angst zurückzukehren und hat sich entschieden, zu gehen. Er wurde an der Waffe ausgebildet, missbraucht und geschlagen. Schließlich musste er als „Ritual“ und als Beweis seiner Loyalität einen Gegner grausam hinrichten, sonst wäre er selbst getötet worden. Nachdem er zwei Jahre kämpfen musste, was alles mit vielen Ängsten und auch Töten verbunden war, gelang ihm die Flucht mit Hilfe eines anderen Soldaten.

Mit welchen Symptomen kam dieser Patient bei uns in die Kinder- und Jugendambulanz? 

Der Jugendliche schilderte, dass er Ein- und Durchschlafstörungen und wiederkehrende Albträume habe. Er könne schwer einschlafen, die Bilder von dem, was alle passiert sei, von Kämpfen und Morden kämen immer wieder hoch, also sehr traumatische Bilder. Dass diese Bilder nachts in seinen Träumen auftauchen würden, er dann schweißgebadet aufwacht und tatsächlich Angst davor habe einzuschlafen, weil er die Bilder nicht mehr sehen wolle, weil er das nicht mehr aushalten würde und es auch körperlich anstrengend sei. Er bliebe bis morgens früh wach, bis es hell wird, erst dann könne er für wenige Stunden etwas schlafen.

Darüber hinaus gab es eine große Angst vor Männern. Er hat durchweg ganz schwierige Erfahrungen mit Männern gemacht. Sowohl mit Männern, die seine Familie damals umgebracht hatten, als auch die Männer, die ihn rekrutiert und missbraucht hatten. Da gab es wahnsinnig viele schlechte Erfahrungen. Wenn ein Mann auf der Straße auf ihn zulief, ergriff er immer wieder die Flucht, erstarrte oder konnte sich nicht mehr bewegen. Er beschrieb einen Zustand von Dissoziation, das heißt, er war nicht mehr ansprechbar, hatte mit massiven Angstgefühlen, die er auch körperlich erlebte, zu kämpfen und konnte praktisch nichts mehr tun. Außerdem litt er unter depressiven Phasen, konnte wochenlang nicht aufstehen, war völlig ermüdet, träge und kam von diesem Grübeln nicht los, was auch in suizidale Gedanken mündete.

Was waren die schwierigsten Themen für ihn?  

Schuld und Scham, das „sich schuldig fühlen“, dass man sich über andere Menschen gestellt hat, das ist ein zentrales Konfliktthema. Der junge Mann wäre umgebracht worden, hätte er nicht die andere Person umgebracht. Er lebt mit dieser inneren Zerrissenheit: „Ich bin böse.“ | „Ich hätte mich umbringen lassen sollen, dann wäre der andere Mensch nicht gestorben.“ | „Ich habe mich über den anderen Menschen gestellt.“ | „Ich hatte riesige Angst.“ | „Sie haben mich bedroht.“ | „Ich konnte nicht anders.“ ­| „Ich hätte mir und anderen Leid ersparen können.“ | „Ich kann so weiterleben und auch Gutes bewirken.“ | „Ich bin nicht böse.“ |

Für den therapeutischen Prozess kam es sehr darauf an, dass der Alltag des Patienten nicht so belastet ist. Es musste Raum zur Verfügung stehen, diese unglaublich großen Gefühle von Schuld und Scham zu bearbeiten. Unser gemeinsames Ziel war, diesem jungen Mann zu helfen, seinen inneren Frieden wieder zu finden.

Kannst Du skizzieren, wie ihr bei so einem schweren Trauma ansetzt? 

Eine gute therapeutische Beziehung aufzubauen, ist das Wichtigste bei der Behandlung eines so komplex traumatisierten Jugendlichen. Es geht darum, dass der Mensch Vertrauen zur therapeutischen Fachkraft aufbaut, dass das Thema, mit dem er als Persönlichkeit kommt, nicht verurteilt, dass er nicht bewertet oder gar vorverurteilt wird. Bei so einer schweren Traumatisierung ist auch das Gefühl für die Mitmenschen verloren gegangen. Man ist immer wieder enttäuscht worden, was Beziehungen angeht. Er musste Missbrauchserfahrungen machen und erlebte Morde. Das Urvertrauen, das jeder Mensch hat, ist dabei verloren gegangen.

Man versucht in der Therapie, dieses Urvertrauen wiederherzustellen. Dann darf der Jugendliche wieder eine positive Erfahrung mit einer Person erleben, die sich das anhört, das einfach aushält und aufnimmt. So entsteht ein ganz wichtiges Vertrauensverhältnis.  Im nächsten Schritt gilt es herauszufinden, wie der Jugendliche sich auch wieder anderen Menschen gegenüber öffnen und eines Tages wieder Freundschaften schließen kann.

Daneben lernt er, mit den Alltagsereignissen, die traumatische Erlebnisse zum Vorschein bringen, umzugehen. Dabei sprechen wir über sogenannte Trigger wie der Geruch von rohem Fleisch oder ein bedrohlich wirkender erwachsener Mann auf der Straße, die den Patienten in einen dissoziativen Zustand bringen. Er lernt dann durch die Therapie, diese schwierigen Situationen zu erkennen, zu benennen, nicht so angstbelastet damit umzugehen, sondern jemanden um Hilfe zu bitten oder sich in irgendeiner Form in der Situation zu entspannen.

Welche Methoden nutzt ihr noch?

Wir nutzen Handlungsstrategien, damit der Patient nicht mehr in depressive Abwärtsspiralen hineinkommt. Wenn er merkt, dass er morgens nicht mehr aufstehen kann oder in zwanghaftes Grübeln hineinkommt, dass er das dann hinterfragt. Er soll lernen, wie er wieder ausbrechen kann: durch Aktivitäten, durch Treffen mit Freunden, durch das Sich-Anvertrauen an Bezugspersonen, durch Offenheit in der Therapie. Unser Ziel ist, dass der Patient nicht in einen Strudel gerät, wochenlang liegenbleibt und gar nur mit Medikation aktiviert werden kann.

Einen Zugang zu den eigenen Gefühlen wiederherzustellen, das ist eine weitere Methode. Was erlebt wurde, wird ja oft abgespalten in eine Art Zustand, der nicht mehr fühlbar ist, weil alles zu heftig war, was da erlebt wurde. Wir erkunden gemeinsam, welche Emotionen noch spürbar sind und arbeiten viel mit dem Körper, da das Trauma letztendlich körperliche Auswirkungen hat: Erstarren, Fluchtverhalten, also Stressempfinden mit den spezifischen massiven körperlichen Auswirkungen. Daraus ergeben sich verschiedene Fragen: Was sich wie anfühlt? Wo das Gefühl im Körper sitzt, wenn ich mich gut fühle? Was entspannt – wenn ich ein Bad nehme oder wenn ich ins Tageslicht gehe? Was passiert, wenn ich lachen kann? Das alles findet statt, bevor wir uns an die Bewältigung des Traumas heranwagen. Dabei geht es darum, dass der Patient über das eigentliche Trauma, die Wunde sprechen lernt: dass er einen Menschen töten musste.

Das Ziel dabei ist, dieses Trauma, das den Körper und den Geist überflutet, sagbar zu machen und seine Ängste und Gefühle dahingehend formulieren zu können: ja, jetzt fühle ich mich so und so im Körper, wenn ich das benenne. Auf diese Weise lässt sich lernen, damit umzugehen und eine Akzeptanz zu entwickeln. Wenn ich jedes Mal überflutet werde von Angst, Wut und Trauer, dann ist das praktisch jedes Mal wie eine Art Re-Traumatisierung. Wir arbeiten ganz viel mit Gefühlen, mit Körpergefühlen und fragen uns, wie der Patient Phasen schaffen kann, die als Gegenpol zu dem Dauerstress entlastend wirken.

Kann ein Mensch mit so schrecklichen Erlebnissen noch Heilung und Frieden erfahren?

Der Begriff Heilung ist ein sehr großer Begriff. Man kann auf jeden Fall einen Grad an Akzeptanz für das Geschehene entwickeln und so die Symptome, die zur Störung – PTBS und Depression — führen, mildern oder sogar erreichen, dass diese weitgehend verschwinden. Das Erlebte bleibt jedoch im Gedächtnis und natürlich weiterhin belastend, man kann ja nichts löschen. Wir benutzen oft das Bild einer „verheilten oder vernarbten tiefen Wunde“. Man muss die Narbe oft lange pflegen und man wird sie sein Leben lang spüren. Wenn man nicht aufpasst, können Narben wieder aufreißen. Bei richtiger Pflege – Bewusstsein und Therapie ­– kann die Narbe schließen und gut „verheilen“. Der Patient kann eine Entlastung und zeitweise ein Gefühl von innerem Frieden erleben. Auf diese Weise kann es wieder Raum für eine Zukunft und für Perspektiven geben, damit der Patient wieder Zuversicht entwickeln kann.

Immer noch werden Schätzungen zufolge jährlich hunderttausende Kinder zum Einsatz in bewaffneten Konflikten gezwungen und erleben dort Schreckliches. Einigen wenigen von ihnen gelingt die Flucht, doch ohne Behandlung verhindern die komplexen Traumatisierungen eine Rückkehr zur Normalität. Mit Ihrer Spende ermöglichen Sie diesen jungen Menschen, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen und schenken ihnen Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft.

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