Interview

Es wird in Kauf genommen, dass Menschen krank werden

28.1.2021

Die Psychiaterin Patricia Panneck arbeitet in unserer Tagesklinik im Zentrum ÜBERLEBEN mit schwer traumatisierten Menschen. Angesichts der Lebensbedingungen in den griechischen Lagern geht sie davon aus, dass die Belastungssituationen vor Ort der psychischen sowie der körperlichen Gesundheit von Bewohner*innen massiv schaden können. Im Interview berichtet sie darüber, wie sich psychisch-reaktive Folgestörungen entwickeln und behandeln lassen.

Wie schätzt Du die Situation in den Lagern auf Lesbos ein?

Was wir von Moria wussten und vom neuen Lager Kara Tepe hören, lässt darauf schließen, dass die Versorgung mit elementaren Dingen für die Bewohner*innen nicht sichergestellt ist. Diese Situation kann sehr bedrohlich sein. Aktuell kommt hinzu, dass die Bewohner*innen das neue Lager aufgrund der Corona-Auflagen nur ganz selten verlassen dürfen. Wenn nun Menschen zum Beispiel zu einem früheren Zeitpunkt bereits eine Hafterfahrung durchgemacht haben oder unter anderen Bedingungen eingesperrt waren, dann führt das erneute Erleben einer vergleichbaren Situation häufig dazu, dass die mit dem ersten Ereignis verknüpften Gefühle sehr stark erinnert bzw. wiedererlebt werden. Aber auch für alle anderen kann so eine Situation ein massiv belastendes Ereignis darstellen.

Kann man davon ausgehen, dass viele Menschen in den Lagern mit traumatischen Ereignissen konfrontiert sind?

Man kann sagen, dass dort Situationen geschaffen werden, in denen Menschen psychisch-reaktive Folgestörungen entwickeln können. Diese Belastungssituationen können also der psychischen sowie der körperlichen Gesundheit massiv schaden. Es wird einfach in Kauf genommen, dass Menschen krank werden.

Wie stark herrschen Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) unter Geflüchteten vor?

Geflüchtete leiden im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung häufiger unter posttraumatischen Belastungsstörungen, aber auch unter Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen. Für die PTBS wurde ein zehnfach erhöhtes Risiko beschrieben. Natürlich bedeutet das nicht, dass jede Person mit Kriegs- oder Fluchterfahrung unter einer PTBS leidet, aber das Risiko ist deutlich erhöht.

Was bedeutet Trauma für Laien übersetzt?

Ein Trauma ist ein Ereignis, was bei den meisten Menschen, selbst wenn sie vorher psychisch völlig gesund sind, einen Zustand massiver Verzweiflung auslöst. Beispielhaft sind Situationen, in denen das eigene Leben oder das Leben der Angehörigen bedroht ist und das mit sehr starken Ängsten gekoppelt ist.

Was sind Auslöser für die PTBS bei Geflüchteten?

Häufig ist es eine Kombination mehrerer belastender Ereignisse. Nicht nur die primären Fluchtursachen wie der Krieg in Syrien oder die Bedrohung durch die Taliban in Afghanistan spielen eine Rolle. Die Betroffenen berichten auch von unerträglichen Situationen in Lagern und auf dem Fluchtweg und von Gefühlen des Ausgesetztseins bzw. Ausgeliefertseins, von Hilflosigkeit in Kombination mit Angst. Darunter werden auch die menschenfeindlichen Bedingungen fallen, die die griechische Regierung und letztendlich auch Europa den Menschen zumutet. Nicht zuletzt nehmen die Lebensbedingungen im Aufnahmeland Einfluss auf den Verlauf der Erkrankung.

Mit welchen Symptomen zeigt sich eine PTBS?

Kurz nach einem belastenden Ereignis selbst können allgemeine Schockreaktionen auftreten. Wenn sich daraus eine PTBS entwickelt, was Wochen bis Monate, manchmal sogar erst Jahre später stattfinden kann, dann sind die Symptome enger mit dem Ereignis selbst verknüpft. Es wird in Form von sich aufdrängenden Erinnerungen und Flashbacks oder in Albträumen wieder erlebt. Die Menschen versuchen dann häufig, Triggern auszuweichen, um den damit verknüpften Gefühlen zu entgehen. Wenn beispielsweise jemand eine sehr schlimme Erfahrung mit Personen in Uniformen in Zusammenhang bringt, dann versucht er oder sie, Begegnungen mit Uniformierten zu vermeiden. Eine Folge ist auch eine ständige innere Unruhe und Anspannung, als wäre man immer noch in Gefahr und müsse ständig in einem Fluchtmodus sein.

Weitere Symptome, die im Zusammenhang mit der PTBS auftreten können, sind Ängste, Schlafstörungen, depressive Stimmung, Reizbarkeit, Suizidalität – das alles ist zu erwarten. Oder ein emotionales Unbeteiligt-Sein, Misstrauen und sozialer Rückzug.

Unter welchen Umständen lässt sich das behandeln?

Man behandelt nicht im ersten Schritt das Trauma selbst, sondern es geht erst einmal darum, Stabilität zu schaffen. Menschen mit PTBS brauchen umso mehr ein sicheres Umfeld, eine sichere Grundlage fürs Leben – dies betrifft Wohnsituation, Aufenthaltsstatus, berufliche Perspektive usw., aber auch emotionale Sicherheit. Erst wenn eine gewisse Stabilität gegeben ist, lässt sich auf das Trauma eingehen. Die Betroffenen, die in den griechischen Lagern sind, erleben ja gerade das Gegenteil. Ihnen fehlt diese Sicherheit, die so wichtig wäre.

Es ist nicht leicht, sich in die Situation der Menschen hineinzuversetzen…

Nein, vieles ist schwer vorstellbar. Wir haben ja in diesem Jahr alle erlebt, wie verunsichernd und belastend die Situation ist, die sich durch die Corona-Pandemie ergeben hat. Ich führe mir manchmal vor Augen, dass die Belastung durch eine solche Situation nicht mal einem Bruchteil der Sorgen entspricht, die viele Geflüchtete aushalten müssen.

Bei den Menschen, die zum Teil schon Monate oder Jahre in den Lagern auf den griechischen Inseln leben, fehlt einfach alles: nicht nur die Unterkunft, sondern auch die Aussicht, ob es überhaupt jemals eine gibt und wo die wäre. Familien sind auseinandergerissen oder es droht sogar die Abschiebung. Es gibt ja überhaupt keine Planbarkeit für die Menschen. Und wir wissen alle: schwere Situationen werden viel besser aushaltbar, wenn es wenigstens eine Perspektive gibt.

Sind die Patient*innen, die ihr in Berlin behandelt, in vergleichbaren Situationen?

Menschen, deren Aufenthaltsstatus ungeklärt ist, sind überaus verunsichert. Und wenn Familien getrennt sind – und wir behandeln viele Patient*innen, die auf ihre Angehörigen warten – dann bestehen natürlich permanent Sorgen und häufig auch Schuldgefühle. Solche Faktoren spiegeln sich ganz deutlich in der Therapie wider, erschweren den Prozess und eine Gesundung.

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Foto: Zentrum ÜBERLEBEN