Jahresbericht 2022/2023
Gruppentherapien – Sich gegenseitig unterstützen
Der steigende Bedarf an psychotherapeutischen Angeboten für geflüchtete Menschen zeigt sich in sämtlichen Abteilungen des Zentrum ÜBERLEBEN. Die Ambulante Abteilung für Kinder und Jugendliche ist davon besonders betroffen, denn in Berlin gibt es nur begrenzte psychotherapeutische Angebote, die sich an komplex traumatisierte minderjährige Geflüchtete richten. Um hier die Wartezeit für eine Einzelpsychotherapie zu verkürzen, wurde das Konzept hinsichtlich Gruppensettings erweitert. Psychotherapeut:in Nal Lohe beantwortet im Gespräch den Prozess rund um das neue Angebot der Gruppenbehandlung, wie die Sitzungen ablaufen und welchen Mehrwert sie bringen.
Was genau hat euch in der ambulanten Abteilung für Kinder und Jugendliche dazu angeregt, den Schritt zu gehen und das Angebot an Gruppentherapien zu erweitern?
„In Vorbereitung auf dieses Jahr hatten wir uns vom Konzept her überlegt, was wir ändern können. Bei uns läuft das Aufnahmeprozedere folgendermaßen ab: Wir bieten eine Telefonsprechstunde, in der wir beratend tätig sind und unsere Angebote für betroffene junge Menschen angefragt werden können. Von den gesamten Anfragen in einer Woche, können wir nur eine Person mit einem Erstgespräch bedienen – danach kommen interessierte Personen erstmal auf die Warteliste. Aufgrund von langen Behandlungszeiten und den erforderlichen engmaschigen Absprachen und Supervisionen im Team sind die Aufnahmekapazitäten der Mitarbeitenden stark beschränkt. Dadurch kann die Wartezeit für Neuaufzunehmende recht lange andauern – zum Teil sechs bis neun Monate. Um diese Wartezeit zu überbrücken und weitere Chronifizierungen zu vermeiden, wird den jungen Menschen nun die Gruppentherapie im Sinne einer „Psychoedukativen Stabilisierungsgruppe“ im Vorfeld einer späteren Aufnahme angeboten. Diese therapeutische Gruppe, mit Unterstützung der Sozialarbeitenden, ermöglicht es den Jugendlichen, sich mit ihrer Traumatisierung und deren Folgen psychoedukativ auseinanderzusetzen und eine erste Stabilisierung zu erfahren. Das Gruppensetting soll das Empowerment sowie ein positives soziales Miteinander stärken, für den Alltag können hilfreiche Strategien ausgetauscht werden.“
Wie kann man sich so eine Sitzung vom Ablauf her vorstellen?
„Wir starten mit einer Art Eingangsrunde. Dabei knüpfen wir häufig auch an das an, was in der vorangegangenen Stunde besprochen wurde bzw. was die Teilnehmenden aktuell einbringen. Es gibt jeweils einen Input zu bestimmten Themen, wie z.B. was sind Skills, wie wollen wir miteinander umgehen, wie verläuft eine Stress-Spannungskurve, welches Verhalten und Empfinden ist wann erlebbar, was sind Symptome einer PTBS (Posttraumatischen Belastungsstörung), was passiert im Gehirn, was ist Dissoziation. Die Gespräche dazu sind darauf ausgerichtet, dass die Jugendlichen ihre Zustände und Belastungssymptome besser einordnen können und merken: Andere erleben das auch so. Gleichzeitig sind in jeder Stunde praktische Übungen und Gruppenspiele integriert, die helfen können, sich im Alltag zu regulieren, wie Progressive Muskelentspannung, Atemübungen und Trainings zum Reorientieren.“
Welche Herausforderungen stellen sich dir als Gruppentherapieleitung und worauf achtest du im Umgang mit den Jugendlichen besonders?
„Eine der Herausforderungen ist, alle im Blick zu haben und anzuregen, dass sie miteinander ins Gespräch kommen sowie darauf zu achten, dass Zeit für die Übersetzungen in alle drei Sprachen gelassen wird. Wir nutzen dafür einen Redeball. Wir sprechen auch viel darüber, wie es ihnen mit den Angeboten geht. In diesem Rahmen spielen auch kulturelle Hintergründe eine große Rolle. Über die eigenen Gefühle zu sprechen, sich dann auch noch in einer Gruppe mit anderen heranwachsenden Männern darüber auszutauschen (aktuell handelt es sich um eine Gruppe mit vier Jungs) – das ist für viele kulturell bedingt etwas ganz Neues, was sie so noch nicht gemacht haben. Umso wichtiger ist es, ihnen den Raum zu geben, selbst herauszufinden, worüber sie sprechen möchten und was ihnen im Umgang mit ihren Problemen am besten hilft. Hier gehen die Teilnehmer bereits gut miteinander in Kontakt.“
Was sind besondere Momente, die dir den Mehrwert von solchen Gruppenangeboten zeigen?
„Letzte Woche kam zum Beispiel einer der Jugendlichen zu spät, weil er einen wichtigen Termin hatte. Ich hatte gerade die anderen gefragt, wie sie ihre Anspannung in einer Skala von 0 bis 100 momentan wahrnehmen. Einer antwortete: Stark angespannt 90. Natürlich waren alle erstmal überrascht und wollten wissen, woran das liegt – er hatte an dem Tag seine Anhörung. Daraufhin sagte der Jugendliche, der zu spät gekommen war, er habe sich wegen eines Termins zur Vorbereitung auf seine Anhörung verspätet. Die Anhörung selbst solle in der nächsten Woche stattfinden. Das hat natürlich direkt dazu geführt, dass wir darüber gesprochen haben: Welche Erfahrungen habt ihr in Bezug auf eure Anhörungen gemacht, was war hilfreich oder könnte helfen? Nach der Sitzung hatte ich den Eindruck, dass alle mit einem positiven Gefühl rausgegangen sind. Insbesondere der Jugendliche mit der kommenden Anhörung hatte neue Motivation geschöpft und sich danach gesagt: Das schaffe ich schon, die anderen haben es schließlich auch geschafft und mir wichtige Ratschläge mitgegeben. Solche Erlebnisse zeigen, wie die Jugendlichen sich aufgrund ihrer ähnlichen Situationen sehr gut gegenseitig emotional auffangen und stärken können.“
Die psychosoziale Versorgung von geflüchteten Kindern, Jugendlichen sowie deren Bezugspersonen wird u.a. gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie von der Beauftragten des Senats für Integration und Migration aus Mitteln der Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung.
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> Alle Jahresberichte des Zentrum ÜBERLEBEN im Überblick
* Der Schutz unserer Patient:innen ist uns wichtig. Deswegen arbeiten wir mit Anonymisierungen bei Persönlichkeitsdaten und Fotos.
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