Handlungsempfehlungen des Berliner Netzwerks Flucht und Behinderung (BNFB)* an den Berliner Senat zur

Verbesserung des Identifizierungsverfahrens, der Errichtung eines Clearingzentrums sowie der Unterbringung für geflüchtete Menschen mit Behinderungen in Berlin in sog. Schwerpunktunterkünften

Berlin, den 27.05.2024

Sehr geehrte Frau Senatorin Kiziltepe,
sehr geehrter Herr Staatssekretär Bozkurt,

vor mehr als zwei Jahren hat der Berliner Senat in seiner Sitzung vom 05.04.2022 unter dem Eindruck des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges auf die Ukraine beschlossen, die besonderen Bedarfe von aus der Ukraine geflüchteten Menschen frühzeitig strukturiert zu identifizieren sowie ein Clearingzentrum für nach Berlin zugewiesene Kriegsgeflüchtete, bei denen eine akute medizinische, pflegerische und/oder psychosoziale Versorgungsnotwendigkeit besteht, zu errichten. Die begrüßenswerte Beschlusslage stellt einen wichtigen Zwischenschritt hin zu einer strukturierten, berlinweiten Umsetzung menschenrechtlicher Mindeststandards bei der Aufnahme dar. Konsequenterweise ist der Senatsbeschluss so interpretiert worden, dass dieser auf Asylantragsteller:innen zu erweitern ist. Damit steht der Beschluss des Senats in Kontinuität zum Beschluss des Abgeordnetenhauses hinsichtlich notwendiger Verbesserungen der Versorgungslage für geflüchtete Menschen mit Behinderungen [1] in Berlin vom 03.09.2020 [2].

Die Beschlusslagen begrüßen wir und fordern deren konsequente Umsetzung. Mit zunehmendem Unverständnis beobachten wir jedoch, dass in der Sache seit zwei Jahren keine wesentlichen Verbesserungen erzielt wurden. Im Gegenteil werden fundamentale Rechte geflüchteter Menschen mit Behinderungen verletzt und die Inanspruchnahme verbriefter Rechte erschwert. Feststellen müssen wir auch, dass sich die Versorgungssituation für geflüchtete Menschen mit Behinderungen, einschließlich geflüchteter Menschen mit chronischen Erkrankungen, verschlechtert. Weder die Identifizierung der Bedarfe von geflüchteten Menschen mit Behinderungen noch die Anspruchsgewährung im Land Berlin erfolgen in angemessener Weise sowie im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention, der EU-Aufnahmerichtlinie, der EMRK oder der grundgesetzlichen Vorgaben. Daneben sind im Rahmen der Unterbringung sowie bei der Versorgung von geflüchteten Menschen mit akut-pflegerischen Bedarfen massive Defizite zu verzeichnen. Bereits begonnene Prozesse im Ankunftszentrum TXL und im AkuZ in Reinickendorf begrüßen wir zwar, sehen jedoch erheblichen konzeptionellen Nachbesserungsbedarf. Strukturell mangelt es an einer geordneten diskriminierungssensiblen Datenerhebung (siehe u. a. auch UN-BRK Art. 31) sowie an einer systematischen und qualitativen Erfassung der Bedarfe. Dies erstaunt umso mehr, da ein kooperativ zwischen ASGIVA und BNS entwickeltes Screeninginstrument existiert. Eine systematisch-qualitative Erfassung der Bedarfe ist jedoch wesentlicher Bestandteil und erster Schritt für eine an den individuellen besonderen Bedürfnissen der schutzsuchenden Menschen ausgerichteten Unterbringung und Versorgung sowie für ein gleichberechtigtes und chancengleiches Asylverfahren. Diese offensichtlichen systemischen Defizite im Aufnahmeverfahren treffen alle Asylantragsteller:innen mit Behinderungen in Berlin und gelten zudem gleichfalls für Menschen mit Behinderungen aus der Ukraine. Berlin hat im Jahr 2023 16.762 Asylantragsteller:innen und 15.144 aus der Ukraine geflüchtete Menschen aufgenommen [3]. Unter den in Berlin aufgenommenen Menschen befindet sich eine Vielzahl von geflüchteten Menschen mit Behinderungen, wobei aufgrund mangelnder systematischer Erhebung eine genaue Aussage nicht getroffen werden kann. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass bis zu 38 Prozent [4] der Asylantragsteller:innen eine Behinderung, eine chronische Erkrankung und/oder anderweitigen Pflegebedarf aufweisen. Für die Verwirklichung der Rechtsansprüche ist dieser Personenkreis auf besondere Garantien angewiesen.

Handlungsempfehlungen an den Berliner Senat:

Obenstehendes vorausgeschickt, haben wir die nachstehenden Handlungsempfehlungen an den Berliner Senat in den Bereichen Identifizierung besonderer Bedarfe und Unterbringung entwickelt.

1. Systematische und frühzeitige Identifizierung geflüchteter Menschen mit Behinderungen und deren Bedarfe mittels Anwendung des Screeningbogens 

Es mangelt an einer systematischen, quantitativen, qualitativen und gleichzeitig diskriminierungssensiblen Erfassung der Bedarfe geflüchteter Menschen mit Behinderungen. Dies ist jedoch wesentlicher Bestandteil und erster Schritt einer an den Bedarfen der betroffenen Personen ausgerichteten Leistungsgewährung und Grundlage gesellschaftlicher Teilhabe. Weder ist aktuell abbildbar, wie viele Menschen mit Behinderungen in Berlin einen Asylantrag stellen, noch ist ersichtlich, welche Bedarfe diese Personen haben. Dies gilt insbesondere für Menschen mit intellektuellen und/oder psychischen Beeinträchtigungen sowie bisher nicht diagnostizierten und anderweitigen Beeinträchtigungen, welche nicht äußerlich erkennbar und somit schwieriger zu identifizieren sind, als sichtbare Behinderungen. Die fehlende Erfassung führt zu enormen Herausforderungen bei der Anerkennung und Gewährung notwendiger Leistungen. Auf das in kooperativer Zusammenarbeit mit der Fachabteilung des ASGIVA entwickelte Screeninginstrument ist bereits hingewiesen worden. Die Umsetzungsverzögerung erstaunt insoweit, als die Verwendung eines Selbsterfassungsbogens zum einen geeignet ist, die Identifizierung und Bedarfserhebung zu vereinfachen und zum anderen die dringend gebotene Umsetzung menschenrechtlicher Mindeststandards erlaubt. Der Selbsterfassungsbogen ist einer weiteren Erprobungsphase in den Ankunftszentren zuzuführen und schnellstmöglich in den Regelbetrieb zu übernehmen. Insbesondere sind die Mittel für die technische Umsetzung zur Verfügung zu stellen. Daneben muss sichergestellt sein, dass ausreichende Kapazitäten nachgehalten werden, um die Bögen auszuwerten und die erforderlichen Maßnahmen aus den Ergebnissen, insbesondere die erforderliche Leistungsgewährung, einzuleiten. Sicherzustellen ist zudem, dass der Selbsterfassungsbogen barrierefrei gestaltet ist. Eine ausreichende Anzahl geschulter Mitarbeiter:innen des Sozialdienstes des LAF, geschulter Mitarbeiter:innen der jeweiligen Unterkünfte und Mitarbeiter:innen behördenunabhängiger Fachstellen zur Identifizierung und zur Erhebung der Bedarfe besonders Schutzbedürftiger ist derzeit weder in den Ankunftszentren TXL und AKuZ Reinickendorf noch in den zugehörigen Unterkünften sichergestellt, sodass unter den gegebenen Umständen meist nur eine Identifizierung „auf Sicht“ und eine unzureichende Erhebung der Bedarfe erfolgen können. Die LAF-seitigen Kapazitäten des Sozialdienstes sind entsprechend zu erhöhen. Eine Aufklärung über Rechte und Pflichten der Schutzsuchenden nach § 24 Abs. 7 AufenthG bzw. nach Art. 19 ff. Asylverfahrensrichtlinie und Art. 5 Aufnahmerichtlinie erfolgt ebenfalls völlig unzureichend und bezieht besondere individuelle Schutzbedarfe nicht mit ein. Im weiteren Prozess haben sich leistungsrechtliche Entscheidungen an den festgestellten Bedarfen zu orientieren. Für Beziehende von Grundleistungen (nach § 3 AsylbLG) ist § 6 AsylbLG („Sonstige Leistungen“) durch die Berliner Behörden extensiv und an den Bedarfen der betroffenen Personen auszulegen und schriftlich nachzuweisen. Behinderungsbedingte notwendige Leistungen wie bspw. Psychotherapie, Rehabilitationsleistungen, Heilmittel (Logopädie, Ergotherapie, Krankengymnastik), Hilfsmittel (orthopädische Hilfsmittel, Hör- und Sehhilfen) und Hilfen zur Pflege, Eingliederungshilfe, Geldleistungen und anderweitige Mehrbedarfe dienen u. a. der Vorbeugung der Chronifizierung und Verschlechterung von Beeinträchtigungen, der bedarfsgerechten/notwendigen Versorgung und damit einer erfolgreichen und zügigen Integration und Teilhabe. Unter Einbezug sowohl der UN-Behindertenrechtskonvention, der EMRK, der Aufnahmerichtlinie als auch der grundgesetzlichen Vorschriften verbietet sich eine Auslegung des § 6 AsylbLG, welche diese Hilfen nicht inkludiert. [5] Erforderlich ist hierfür auch, dass die Begutachtungskapazitäten erhöht werden, um Behinderungen und Bedarfe zeitnah prüfen zu können – für Pflegebegutachtungen von allen Antragsteller:innen in ganz Berlin steht bspw. dem LAF zum jetzigen Zeitpunkt nur eine einzige Person in Teilzeit zur Verfügung. Von wesentlicher Bedeutung im Rahmen des Aufnahme- und Identifizierungsprozesses ist die Unterstützung durch Sprachmittler:innen und ein entsprechendes Angebot, welches gleichermaßen barrierearm wie auf die besondere Situation der Antragsteller:innen zugeschnitten sein muss.

2. Errichtung eines Clearingzentrums zur weiteren Abklärung der festgestellten Bedarfe

Um eine an den Bedürfnissen der geflüchteten Menschen orientierte strukturierte Identifizierung und daraus folgend die Erfassung und Identifizierung der besonderen Bedarfe bei der Unterbringung und Versorgung besonders schutzbedürftiger Geflüchteter zu garantieren, fordern wir dringend die Einrichtung des angekündigten Clearingzentrums für besonders schutzbedürftige geflüchtete Menschen. Für die Feststellung der speziellen individuellen Bedarfe und deren Gewährleistung ist ein retardierendes Momentum im Rahmen des Registrierungs- und Identifizierungsprozesses ab dem Zeitpunkt, zudem ein Hinweis auf das Vorliegen besonderer Bedarfe aufgenommen worden ist, notwendig. Dies ist vor allem erforderlich, um die weitere Bedarfsidentifizierung mit Sorgfalt an den Bedürfnissen der Betroffenen auszurichten und die notwendige Fachexpertise einfließen lassen zu können. In die Konzeption des Clearingzentrums zur Feststellung und Erhebung der Bedarfe besonders schutzbedürftiger geflüchteter Menschen sollten zivilgesellschaftliche Expertise und gleichzeitig eine diskriminierungssensible Perspektive umfangreich einfließen. Es braucht ein klares politisches Bekenntnis zu dem Umsetzungsbeschluss sowie die Umsetzung der bereits angedachten konzeptionellen Schritte.

3. Bedarfsgerechte Unterbringung von geflüchteten Menschen mit Behinderungen in sog. Schwerpunktunterkünften

In Anbetracht der aktuellen Unterbringungssituation und der künftig zu erwartenden Herausforderungen durch prognostisch gleichbleibend hohe Ankunftszahlen und fehlende Unterkunftsplätze empfehlen wir dringend die Errichtung von Schwerpunktunterkünften für geflüchtete Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen, sodass eine weitgehend barrierefreie, bedarfsorientierte und menschenwürdige Unterbringung in Umsetzung des Rechts auf angemessenen Wohnraum [6] gewährleistet wird. Die perspektivische Zielsetzung bleibt dabei die selbstbestimmte Unterbringung von geflüchteten Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen in eigenem Wohnraum. Die Schaffung von Schwerpunktunterkünften bedeutet dabei nicht, dass eine Sonderstruktur im Kontext Behinderung und Flucht etabliert werden soll. Vielmehr steht die Einhaltung der UN-BRK mit der Maßgabe inklusiver Strukturen im Vordergrund. Die Standorte von Schwerpunktunterkünften sind so auszuwählen, dass die Anbindung an das Hilfe- und Regelsystem sowie Integrationsangebote und gesellschaftliche Teilhabe ohne unverhältnismäßig große Hürden möglich sind. Dies erfordert im Minimum den unmittelbaren Zugang zu barrierefreien öffentlichen Transportmitteln, idealerweise einen Fahrdienst aus der Unterkunft für mobilitätseingeschränkte Personen. Auf eine lastengerechte Verteilung geflüchteter Menschen mit Behinderungen über die Bezirke ist dabei zu achten. Grundsätzlich sind Bezirkswechsel unter allen Umständen zu vermeiden, da sonst das umfangreiche Hilfenetz kollabiert und ein Zuständigkeitswechsel einhergeht, das den Zugang zu notwendigen behinderungsspezifischen Leistungen verwehrt oder erheblich verzögert.

Eine menschenrechtsbasierte, bedarfsgerechte Unterbringung von geflüchteten Menschen mit Behinderungen orientiert sich ausschließlich und nicht verhandelbar an deren individuellen Bedarfen. Eine allgemeingültige Aussage zur Ausgestaltung eines Unterbringungskonzepts für geflüchtete Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen kann folgerichtig nicht getroffen werden. Schwerpunktunterkünfte definieren strukturelle Mindeststandards, benötigen aber Möglichkeiten für Individualanpassungen, um den besonderen Bedarfen von Menschen mit Behinderungen jeweils gerecht zu werden. Neben allgemeinen Barrierefreiheitsstandards sind daher sog. angemessene Vorkehrungen i. S. d. UN-BRK und LGBG zu gewährleisten. Somit sind Schwerpunktunterkünfte konzeptionell auf den schwerpunktmäßig untergebrachten Personenkreis mit seinen Bedarfen anzupassen. Es ist dabei unbedingt darauf zu achten, dass eine Unterbringung im Familienverbund gewährleistet ist – insoweit ist in den Schwerpunktunterkünften jeweils ein festes Kontingent an Plätzen vorzusehen, die für pflegende/assistierende Familienangehörige und Bezugspersonen freizuhalten. Gleichwohl lassen sich aus der Praxis Empfehlungen und Maßnahmen ableiten, die als Mindestanforderungen [7] an Schwerpunktunterkünfte sichergestellt sein müssen.

Schwerpunktunterkünfte stellen die Unterbringung in barrierefreien Einzelzimmern und Wohneinheiten sicher, die über eine Appartementstruktur mit innenliegenden, barrierefreien Bädern und Küchen verfügen. Um den Bedarfen von Menschen mit akutem Pflegebedarf zu entsprechen, werden in Schwerpunktunterkünften zudem Zimmer vorgehalten, welche die Aufnahme von Personen mit akut pflegerischen Bedarfen im Familienverbund ermöglichen, für die es in Berlin bisher nicht ausreichend geeignete Strukturen gibt. [8] Soweit Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünfte sowie das Ankunftszentrum TXL nicht über vergleichbare Strukturen verfügen und sich an den formulierten Mindeststandards orientieren, sind diese umzustrukturieren und – ggf. in Teilbereichen – in Schwerpunktunterkünfte umzuwidmen. Das AsylG gibt den Ländern über § 44 Abs. 2a sowie § 53 Abs. 3 in der Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie auf, im Rahmen der Unterbringung geeignete Maßnahmen zum Schutz vulnerabler Personen zu treffen.

Eine wesentliche Herausforderung stellt sich immer dann, wenn geflüchtete Menschen akute pflegerische Bedarfe aufweisen. Weder die Berliner Ankunftszentren noch die Aufnahmeeinrichtungen oder die Gemeinschaftsunterkünfte verfügen über ausreichende Betreuungsstrukturen, insbesondere Zimmer oder Appartements, in welchen pflegerische Bedarfe gedeckt werden und entsprechende Leistungen zur Verfügung gestellt werden können. Daher müssen in Schwerpunktunterkünften insbesondere Zimmer vorgehalten werden, welche diesen Anforderungen gerecht werden. Um den speziellen Bedarfen von geflüchteten Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen sowie pflegerischen Bedarfen zu entsprechen, ist der Personalschlüssel in den Schwerpunktunterkünften zu erhöhen. Als Basis dient hierfür in allen Schwerpunktunterkünften der Referenzschlüssel aus den Leitungs- und Qualitätsbeschreibungen Aufnahmeeinrichtung zum Betreibervertrag Flüchtlingsunterbringung Land Berlin, der um folgendes Personal erhöht werden soll:

• ein:e Ärzt:in
• ein:e Krankenpfleger:in
• ein:e zusätzliche Psycholog:in
• ein:e zusätzliche Sozialarbeiter:in je 50 Bewohner:innen (mit unterschiedlichen Sprachkompetenzen, u. a. mind. eine Person mit Gebärdensprachkompetenz)
• zwei zusätzliche Sozialbetreuer:innen je 50 Bewohner:innen
• ein:e Beauftragte:r für besonders schutzbedürftige Geflüchtete

Mitarbeiter:innen mit eigenen oder familiären Behinderungserfahrungen sind zu präferieren. Strukturell ist sicherzustellen, dass die in den Schwerpunktunterkünften tätigen Ärzt:innen Arzneimittel verschreiben und Überweisungen in das Regelsystem ausstellen können. Die Ausgabe und Verabreichung von Medikamenten bzw. die unterkunftsnahe Anbindung muss bedarfsgerecht möglich sein. Insoweit wird diesen auch die Aufgabe übertragen, die Anbindung in die bezirklichen Strukturen sicherzustellen. Eine psychosoziale Betreuung ist regelhaft in den Unterkünften anzubieten.

Folge der Erhöhung des Personalschlüssels darf dabei nicht sein, dass die Unterkunft als Aufnahmeeinrichtung beurteilt wird. Vielmehr ist grundsätzlich darauf hinzuwirken, dass die Verweildauer in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften so gering wie möglich ausfällt. Ist eine bedarfsgerechte Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung nicht gewährleistet, hat eine Aufhebung der Wohnverpflichtung zu erfolgen (§ 49 Abs. 2 AsylG). Die Verstetigung der diesbezüglichen Berliner Praxis, Menschen schon im Rahmen der Erstregistrierung im Ankunftszentrum aus der Wohnverpflichtung in einer Aufnahmeeinrichtung zu entlassen, ist dabei insbesondere auf geflüchtete Menschen mit Behinderungen und ihre pflegenden/assistierenden Angehörigen anzuwenden.

Eine Verlegung der Antragsteller:innen mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen in die Schwerpunktunterkünfte hat – soweit diese nicht aus medizinischen Gründen bereits vorher erfolgt ist – unmittelbar nach Berlinzuweisung und erstem Clearing, bzw. frühestmöglich ab Kenntnis über die Behinderung, soweit diese erst zu einem späteren Zeitpunkt identifiziert wird, zu erfolgen. Grundvoraussetzung dabei ist, dass die Unterbringung in einer Schwerpunktunterkunft freiwillig erfolgt. Die Erstuntersuchung nach § 62 AsylG findet zeitnah in den Unterkünften statt. Bei Minderjährigen sind die bezirklichen KJGD in die Struktur einzubinden.

Um eine an den Bedarfen orientierte Unterbringung und Versorgung sicherzustellen, müssen die Schwerpunktunterkünfte eng mit dem Sozialdienst des LAF, den Fachberatungsstellen und anderen Akteur:innen, wie ambulanten Pflegediensten, zusammenarbeiten. Grundsätzlich muss auch bei einer Unterbringung in Schwerpunktunterkünften immer das Ziel sein, eine Anbindung in die Regelversorgung zu erreichen. Hierzu sind auch die Kapazitäten des LAF-Sozialdienstes so zu erhöhen, dass dieser regelhaft die bedarfsgerechte Anbindung in das Regelsystem unterstützen kann.

Die Betreiber:innen der Schwerpunktunterkünfte sind vertraglich dazu zu verpflichten, das eingesetzte Personal in Hinblick auf die bestehenden Herausforderungen und mögliche Bedarfe bzw. Leistungen für Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen (Menschenrechtsmodell von Behinderung i. S. d. UN-BRK sowie leistungsrechtliche Ansprüche wie etwa Schwerbehindertenausweis, Eingliederungshilfe, Hilfs- und Heilmittel, Therapien, Mehrbedarfe, Schutzbescheinigungen entsprechend Aufnahmerichtlinie) zu schulen und zu sensibilisieren. Diese Maßnahmen sind mit zivilgesellschaftlichen Expert:innen partizipativ vom LAF zu entwickeln und engmaschig zu kontrollieren. Seitens der Betreiber:innen der Schwerpunktunterkünfte ist sicherzustellen, dass der Sozialdienst in der Unterkunft täglich in der Zeit von 8:00 bis 18:00 Uhr, auch an Wochenenden/Feiertagen, für unterstützende Begleitung erreichbar ist. Barrierefreiheit i. S. v. § 4 LGBG weist je nach Behinderung und Bedarf verschiedene Dimensionen auf, die in den Schwerpunktunterkünften berücksichtigt werden müssen. Um Eigenständigkeit, Teilhabe und Zugang zu Unterstützung zu gewährleisten, ist zudem darauf zu achten, dass die Barrierefreiheit sich nicht nur auf die Zimmer/Appartements beschränkt, sondern ganzheitlich in allen Wohn-, Beratungs- und Verwaltungsbereichen der gesamten Unterkunft gegeben sein muss. Barrierefreiheit schließt zudem Zugang zu Informationen und Infrastruktur/Transport mit ein. Insoweit müssen Schwerpunktunterkünfte daher im Minimum die nachstehenden Merkmale aufweisen:

• einen inklusiven Evakuierungsplan inkl. visuellem und akustischen Feuermeldesystem
• ein integriertes Gewaltschutzkonzept mit barrierefreiem Beschwerdemanagement
• schwellenlose Ein-/Notausgänge sowie zwei frei zugängliche Aufzüge in der Unterkunft
• Eingangsbereich und Zimmer mit elektrischen Türöffnern
• akustische und optische Klingelmöglichkeiten vor den Zimmern/Appartements
• eine barrierefreie Küchenausstattung mit eigener Kochmöglichkeit für Mehrbedarfe
• barrierefreie Bäder/Sanitäranlagen (innenliegend, inkl. zugängliche Waschmaschinen)
• Zimmer verfügen über einen eigenen Kühlschrank zur sachgerechten Aufbewahrung von Medikamenten
• Leitsysteme für Menschen mit Sehbeeinträchtigung
• Aushänge in Leichter Sprache und Piktogrammen für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen
• Zimmereinrichtungen sind auf mobilitätsbeeinträchtigte Menschen und auf Menschen mit Sehbeeinträchtigungen angepasst (u. a. Ausstattung mit Hilfsgriffen)
• Zimmer müssen ausreichenden Platz für Hilfsmittel (Rollstühle, Gehhilfen, auch Elektrorollstühle) inkl. Auflademöglichkeit aufweisen
• Zimmer mit Pflegebetten
• ausreichendes Sprachmittlungsbudget für zertifizierte Gebärdensprachdolmetschung sowie mind. eine:n Sozialarbeiter:in mit Gebärdensprachkompetenz, um eine barrierefreie Kommunikation zu ermöglichen
• uneingeschränkten Zugriff auf WLAN in gesamter Unterkunft (etwa für Gebärdensprachdolmetschdienste)
• Ruhe- und Lärmschutzmaßnahmen (etwa designierte Ruheräume für autistische Personen)
• Minimalausstattung an Hilfsmitteln zur Leihgabe bis individuelle Anpassung und Bewilligung erfolgt ist
• Anbindung an barrierefreien ÖPNV
• Angebote (unter Berücksichtigung der Freiwilligkeit der Bewohner:innen) zu Beratung und medizinischer Versorgung in den Unterkünften

Die genannten Maßnahmen stellen die notwendigen Voraussetzungen dar, um geflüchtete Menschen mit Behinderungen in Berlin im Einklang mit den eingangs zitierten Beschlüssen und Rechtsvorgaben bedarfsgerecht zu versorgen und menschenrechtliche Mindeststandards umzusetzen. Solange die Schwerpunktunterkünfte den Gesamtbedarf nicht decken, sind einheitliche Zugangsvoraussetzungen und Orientierungsmaßstäbe zu entwickeln. Diese müssen einheitlich, menschenrechtsbasiert und diskriminierungsfrei sein und sind gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Expert:innen, wie etwa dem BNFB, zu konzipieren.

gez.
Nicolay Büttner
Politische Arbeit und Advocacy
Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige geflüchtete Menschen (BNS)
Tel.: +49 159 01490397
n.buettner@ueberleben.org

Mitunterzeichnende: 

AWO Landesverband Berlin, AWO Kreisverband Berlin-Mitte, Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige geflüchtete Menschen, Berliner Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen e.V., Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Geflüchtete und Migrant*innen, Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV), Flüchtlingsrat Berlin e.V., Gehörlosenverband Berlin e.V., Handicap International e.V., Interkulturelle BrückenbauerInnen in der Pflege (IBIP), InterAktiv e.V., Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant:innen e.V. (KUB), Mina – Leben in Vielfalt e.V., Schwulenberatung Berlin, Die Sputniks e.V., Sunflower Care e.V., Xenion – Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte e.V., Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin e.V. und Zentrum ÜBERLEBEN


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*Das Berliner Netzwerk für Flucht und Behinderung (BNFB) ist ein Zusammenschluss von Berliner Akteuren, welche sich mit dem Querschnittsbereich Flucht, Migration und Behinderung befassen. Das Netzwerk hat sich im Jahr 2021 gegründet und vereint Fach- und Beratungsstellen, politische Organisationen sowie Einzelpersonen. Gemeinsam wirken wir auf die Verbesserung struktureller Bedingungen für geflüchtete Menschen mit Behinderungen hin. Dabei ist der Dialog mit politischen Entscheidungsträger:innen, Betroffenen und Beratenden, deren Vernetzung sowie deren Einbeziehung, Grundlage der Zusammenarbeit. Die unterschiedlichen Perspektiven aus und auf den Querschnittsbereich Flucht, Migration und Behinderung bilden die zentrale Stärke des Netzwerks. Unser Anliegen ist es, Problemstellungen und Herausforderungen transparent zu machen und gemeinsam mit politischen und behördlichen Ansprechpartner:innen Lösungen zu erarbeiten, welche die Grundlage einer gelingenden, menschenrechtsorientierten Teilhabe von geflüchteten Menschen mit Behinderungen in Berlin darstellen. Hierzu erarbeiten wir Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der Ankommenssituation von geflüchteten Menschen mit Behinderungen und deren Angehörigen in Berlin, die wir dem Senat regelmäßig zur Verfügung stellen.

[1] Der Personenkreis der „Menschen mit Behinderungen“ orientiert sich nachfolgend an der Definition der UN-BRK, welche Menschen mit chronischen Erkrankungen und psychischen Beeinträchtigungen (u. a. längerfristige Traumatisierung) sowie (ältere) Menschen mit Pflegebedarf einbezieht (Art. 1 UN-BRK).

[2] S. Drucksache 18/2931 https://www.parlament-berlin.de/ados/18/IIIPlen/vorgang/d18-2931.pdf sowie Protokoll zur Beschlussfassung https://www.parlament-berlin.de/ados/18/IIIPlen/protokoll/plen18-062-pp.pdf (abgerufen am 19.04.2024).

[3] https://www.berlin.de/laf/ankommen/aktuelle-ankunftszahlen/artikel.625503.php (abgerufen am 18.04.2024).

[4] Weltweit geht die WHO von einem Anteil von 15 % Menschen mit Behinderungen aus. Jedoch ist im Kontext kriegerischer Auseinandersetzungen das Risiko einer Behinderung erhöht. In einer Studie von 2014 wiesen 22 % syrischer Geflüchteter in Flüchtlingslagern eine Beeinträchtigung auf, 6 % wiesen eine Verletzung auf, die u. a. auch pflegerische Bedarfe zur Folge hatte, und 15,6 % lebten mit einer chronischen Erkrankung. Siehe WHO (2011): World report on disability; online abrufbar unter: https://www.who.int/teams/noncommunicable-diseases/sensory-functions-disability-and-rehabilitation/world-report-on-disability (abgerufen am 22.04.2024). HelpAge International, Handicap International (2014): Hidden victims of the Syrian crisis: disabled, injured and older refugees, online abrufbar unter: https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/hidden-victims-syrian-crisis-disabled-injured-and-older-refugees (abgerufen am 03.04.2024).

[5] Insoweit verweisen wir auch auf den Beschluss des LDS NDS v. 01.02.2018 L8AY, AZ: 16/17B ER, der einen Anspruch auf Eingliederungsleistungen direkt aus den Sozialgesetzlichen Vorschriften ableitet: „Mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch Bescheid vom 20. Oktober 2017 ergibt sich der Anspruch der einkommens- und vermögenslosen Antragstellerin auf Eingliederungshilfe in Form von ambulanten Betreuungs- bzw. Assistenzleistungen aus §§ 19 Abs. 3, 23 Abs. 1 Satz 3, 53 Abs. 1 Satz 1, 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX (in der am 31. Dezember 2017 geltenden Fassung, a.F.). § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII (in der seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung, BGBl. I 2016, 3234) verweist wegen der Leistungen zur medizinischen und sozialen Rehabilitation ausdrücklich auf die außer Kraft getretene Rechtslage.“

[6] Der UN-Sozialpakt (Art. 11), die UN-Behindertenrechtskonvention (Art. 28) sowie die Berliner Landesverfassung (Art. 28) gewähren das Recht auf angemessenen Wohnraum.

[7] Die folgenden Ausführungen zu Mindestanforderungen wurden gemeinsam von Expert:innen aus Fachberatungsstellen und aus der Zivilgesellschaft, Mitarbeitenden von Geflüchtetenunterkünften und Selbstvertreter:innen entwickelt und spiegeln die Mindestbedingungen wider, die für eine bedarfsgerechte Unterbringung von Geflüchteten mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen erforderlich sind.

[8| Die Aufnahmeeinrichtung „Zum Heckeshorn“ und der Pflegebereich im Ankunftszentrum Tegel sind begrüßenswert, decken die Bedarfe aber nicht in ausreichendem Maße und liegen zudem räumlich stark isoliert.

[9] Grundsätzlich wird für detaillierte Vorgaben auf die DIN 18040-1 / 18040 – 2 zu barrierefreiem Bauen verwiesen. Online abrufbar unter https://nullbarriere.de/din18040-1.htm.