Eine Kampagne von Zentrum ÜBERLEBEN und Gesundheitsstadt Berlin

Stimmen gegen die Sprachlosigkeit

1.7.2024

Schwere Gewalt und Folter machen sprachlos. Durch unsere therapeutischen Angebote für traumatisierte geflüchtete Menschen setzen wir im Zentrum ÜBERLEBEN alles daran, diese Sprachlosigkeit zu durchbrechen. Das Unvermögen, das nahezu Unsagbare in Worte zu fassen, wird durch den Mangel an Sprach- und Kulturmittlung (SKM) strukturell weiter verfestigt. Sprachmittlung ist für den therapeutischen Prozess von geflüchteten Menschen unverzichtbar: Sie ermöglicht erst die reibungslose Kommunikation im Therapieraum – dennoch wird diese Leistung nicht von den gesetzlichen Krankenkassen abgedeckt. Unsere #StimmenGegenDieSprachlosigkeit erklären, warum es so nicht weitergehen kann.

„Gerade bei Menschen mit traumatisierenden oder anderweitig sehr belastenden Erfahrungen ist es besonders wichtig, eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Sprach- und Kulturmittler:innen tragen wesentlich dazu bei, soziale und kulturelle Kontexte besser zu verstehen. Es ist von ganz entscheidender Bedeutung, dass Aussagen der Patientinnen und Patienten nicht nur übersetzt, sondern auch im jeweiligen Kontext verständlich eingeordnet und diskutiert werden können. Berlin ist eine kulturell heterogene Stadt mit Menschen aus vielen Regionen dieser Welt. Niemand ist in der Lage, ohne Hilfe kulturelle und soziale Hintergründe zu verstehen“, erklärt Prof. Dr. Dr. Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Campus Charité Mitte, Berlin.

Auch Dr. David Keller, Psychologischer Psychotherapeut und Leiter der BNS-Fachstelle im Zentrum ÜBERLEBEN, betont den Mehrwert der Sprach- und Kulturmittlung, die über das einfache Übersetzen hinausgeht. Er setzt sich im Rahmen eines wissenschaftlichen Projekts mit der Thematik aus der Perspektive der Kulturwissenschaft auseinander.

Credits Foto David Keller: Universität Bielefeld / P. Ottendörfer

Fotocredits: Universität Bielefeld, P. Ottendörfer

„Bei Übersetzungen geht es um viel mehr als um den bloßen Transfer von Worten zwischen verschiedenen Sprachen“, so Dr. David Keller. „Sprachmittlung ist immer eine komplexe kulturelle Übersetzungsleistung, die auf verschiedenen Ebenen stattfindet. Besonders augenscheinlich wird dies im Feld der transkulturellen Psychotherapie: Zum Beispiel beeinflussen kulturell geprägte Vorstellungsweisen, wie gesundheitliche Beschwerden ausgedrückt werden und zur Sprache kommen. Zugleich ist der Blick der Behandler:innen auf ihr Gegenüber ebenso kulturell geprägt – im Globalen Norden zum Beispiel durch ein biomedizinisches Modell von Gesundheit und Krankheit. Bei der Aushandlung gegenseitiger Verständigung kommt Übersetzer:innen somit eine zentrale Vermittlungsrolle zu.“ 

Der Beruf der Sprach- und Kulturmittelnden ist entsprechend mit viel Verantwortung verbunden. Wie hoch der Bedarf ist, lässt sich am besten erkennen, wenn man die Zahlen sprechen lässt. So sieht das auch Prof. Dr. Meryam Schouler-Ocak – Leitende Oberärztin der Psychiatrischen Institutsambulanz (Psychiatrische Universitätsklinik der Charité Alexianer St. Hedwig Kliniken Berlin):

„Im Datenreport 2021 [1] wurde berichtet, dass etwa 74 Prozent der Personen mit Migrationsgeschichte ihre eigenen deutschen Sprechfähigkeiten als `gut` oder `sehr gut` einschätzten. Etwa 25 Prozent dagegen gaben an, keine guten Sprachkenntnisse in Deutsch zu haben. Dieser Anteil ist unter Personen mit Fluchtgeschichte noch höher. Dabei hat gerade das Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie Sprache als Hauptarbeitsinstrument.“

 Aus diesem Bedarf leitet sich die Notwendigkeit zu politischen Handlungen ab. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung war zwar das Versprechen verankert, die SKM in die Regelfinanzierung aufzunehmen. Bislang blieben jedoch die dafür erforderlichen Schritte aus. Ein Lippenbekenntnis ohne weitere Bemühungen, dieses umzusetzen? Mittlerweile ist das der Eindruck, der sich unter den psychosozialen Zentren verstärkt.

„Es sollte allen Aktiven im Feld daran gelegen sein, dass zeitnah ein entsprechender Gesetzesentwurf vorliegt und die Ausgestaltung der Praxis und Infrastrukturen bedarfsangemessen und unter Einbezug der bereits bestehenden Expertise stattfindet. Hierbei sollte ein Augenmerk auf den Einbezug des medizinischen Personals und der entsprechenden Interessengruppen gelegt werden. Denn medizinisches Personal kann nicht-deutschsprachige Klient:innen und Patient:innen in vielen Fällen nur unter Einbezug qualifizierter Kultur- und Sprachmittler:innen in gleichwertiger Qualität versorgen. An dieser Stelle sollten die diversen Berufsgruppen und entsprechende Berufsverbände stärker in die Implementierungsprozesse im Hinblick auf Qualifizierung aber auch Berufspolitik eingebunden werden“, erläutert Prof. Dr. Ulrike Kluge, Leitende Psychologin und Gruppenanalytikerin Campus Charité Mitte.

Die Bündnis 90/Die Grünen-Bundestagsabgeordnete und amtierende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses Dr. Kirsten Kappert-Gonther setzt sich schon lange dafür ein, dass die SKM im Sozialgesetzbuch V verankert wird und so die Kosten als Teil der Regelversorgung übernommen werden können. Sie betont außerdem die Notwendigkeit, diese Leistungen zu verstetigen, damit sie nicht mehr von kurzfristigen Projektfinanzierungen abhängig sind. Neben der fehlenden Finanzierung sieht Dr. Kappert-Gonther eine weitere wichtige Stellschraube:

„Um einen diskriminierungsfreien Zugang ins Hilfesystem zu ermöglichen, bedarf es neben der Finanzierung von SKM einer diskriminierungskritischen Haltung. Diskriminierung und Rassismus werden im Gesundheitswesen lange nicht so intensiv diskutiert, reflektiert und adressiert, wie es notwendig wäre. Dabei führen und verstärken sie psychische Belastungen und Erkrankungen. Dies unterstreichen immer wieder Berichte wie kürzlich der Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa) oder die aktuelle Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Hier müssen wir alle gemeinsam aktiv werden, eigene Positionen hinterfragen und ins Handeln kommen – ob als Privatperson, als Beschäftigte im Gesundheitswesen, als Verbandsvertreter:in und in der Politik. Rassismus macht krank.“

Um die aktuelle Situation zu verbessern, müssen auf politischer Ebene Veränderungen eingeleitet werden. Zusammen mit unseren Stimmen gegen die Sprachlosigkeit fordern wir deswegen:

  • Die Aufnahme von Sprachmittlungsleistungen in den Katalog der Gesetzlichen Krankenversicherung bzw. ins SGB V, um einen diskriminierungsfreien Zugang zum Gesundheitswesen für Menschen unterschiedlichster Herkunft zu ermöglichen.
  • Alle Berufsgruppen in der Gesundheitsversorgung, die Leistungen nach SGB V anbieten, sollen Zugriff auf Sprachmittlung erhalten.
  • Die Entwicklung und Finanzierung von multisprachlichen Konzepten zur Verbesserung des Zugangs zu Leistungen der Gesundheitsversorgung (z.B. Webseiten der Krankenversicherungen, übersetzte Infomaterialien, Terminvereinbarungsservice in verschiedenen Sprachen).
  • Es muss ein klares Rollen-/Berufsbild als Qualitätsstandard für die Kultur- und Sprachmittlung entwickelt und festgehalten werden.
  • Es braucht eine Gebührenordnung, welche den Sprachmittlungsdiensten die Umsetzung von hochwertigen Schulungs- sowie Supervisionsformaten ermöglicht.
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Stimmen gegen die Sprachlosigkeit ist eine gemeinsame Kampagne des Zentrum ÜBERLEBEN und der Gesundheitsstadt Berlin.  

Verfolgen Sie unsere Aktion auf Social Media und teilen Sie unsere Beiträge, um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Erheben auch Sie, gemeinsam mit unseren Expert:innen, Ihre Stimme gegen die Sprachlosigkeit.

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Die Sprachmittlung im Zentrum ÜBERLEBEN wird zu rund 80 % durch Spenden finanziert. Unsere Sprach- und Kulturmittelnden begleiten uns pro Jahr in etwa 14.000 Stunden – Tendenz steigend. Die finanzielle Belastung ist somit beträchtlich! Öffentliche Träger und Förderer übernehmen zwar einen Teil der Kosten, aber solange die Sprachmittlung nicht in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen wird, können wir diese Kosten nur gemeinsam mit Ihnen stemmen! Helfen Sie uns jetzt mit Ihrer Spende, die unabdingbare Sprachmittlung für eine Therapiesitzung zu ermöglichen. 45 € finanzieren eine Stunde, aber auch geringere Beträge sichern die dringend benötigte Unterstützung für traumatisierte Geflüchtete in unserem Behandlungszentrum.

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[1] https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/datenreport-2021/sozialstruktur-und-soziale-lagen/330046/deutsche-sprachkenntnisse/_Zugang (12.11.2022)