Newsletter / Dezember 2019 – Artikel

Internationaler Tag der Menschenrechte:Verletzte Rechte – auf und nach der Flucht durch Libyen

Tausende Migrant*innen und Geflüchtete sitzen in libyschen Lagern und Gefängnissen fest, in denen Gewalt, Folter, Erniedrigung und Entrechtung herrschen. Vor dem internationalen Tag der Menschenrechte fordern wir ein Ende der europäischen Abschottungs- und Abschreckungspolitik, die auf der Kooperation mit der libyschen Regierung fußt. Diese Politik verschärft die Situation der Betroffenen. Auch hierzulande werden die Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen, die durch die Erlebnisse in Libyen schwer traumatisiert wurden, missachtet. Trotzdem zahlreiche der Betroffenen schwer krank sind, werden die Kosten für ihre Behandlung nur sehr eingeschränkt übernommen.

Aktuell stehen drei jugendliche Migranten aus Ghana nach sieben Monaten Untersuchungshaft in Malta vor Gericht. Die Jugendlichen hatten viel riskiert, weil sie nicht nach Libyen zurückgebracht werden wollten. Sie hatten den türkischen Frachter „El Hiblu“ nach einer Rettungsaktion von 109 Menschen unter ihre Kontrolle und auf Kurs nach Malta gebracht. Dass die drei jungen Menschen nun wegen terroristischer Aktivitäten angeklagt werden, ist unglaublich. Menschenrechtsaktivist*innen laufen Sturm, da ihnen langjährige bis lebenslängliche Strafen drohen. Aus unserer Sicht haben sie Zivilcourage gezeigt und ihr Leben sowie das Leben anderer gerettet. Malta dagegen nutzt das Verfahren, um eine Politik der Abschreckung zu verfestigen. Anklagen vor Gericht sind mittlerweile ein Instrument europäischer Grenzpolitik geworden. Was wollten diese Jugendlichen sich und den anderen geretteten Frauen, Kindern und Männern ersparen?

Staat ohne Kontrolle – Menschenrechtsverletzungen alltäglich

In Libyen halten sich nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration derzeit mindestens 640.000 Migrant*innen und Geflüchtete auf. Viele von ihnen leben unter unerträglichen hygienischen, sozialen und persönlichen Bedingungen und leiden unter massiven Menschenrechtsverletzungen jenseits unserer Vorstellungskraft: Internierung, Mangelernährung, Folter, Vergewaltigung, Erniedrigung, Verlust jeglicher Würde, Verschleppung, Versklavung, Entführung, Erpressung und Hinrichtungen. Die Menschen werden Opfer von Bombenangriffen, sind schutzlos der Gewalt von Kriminellen und Milizen ausgeliefert und Männer werden mitunter zu Kampfeinsätzen im libyschen Bürgerkrieg gezwungen. Seit Jahren entwickelt sich diese Situation zu einer humanitären Katastrophe, denn in Libyen gibt es keine Sicherheit, keine Rechtsstaatlichkeit und keine funktionierenden Strukturen.

EU-Politik verschärft die Situation vor Ort

Das libysche Regime bleibt trotz dieser Menschenrechtssituation ein wichtiger Kooperationspartner im Rahmen der europäischen Migrationspolitik. Das Zentrum ÜBERLEBEN wendet sich gegen diese „Externalisierung europäischer Grenzpolitik“ und fordert, dass die EU und die Bundesrepublik Verantwortung für die menschenrechtlichen Konsequenzen ihrer Politik übernehmen. Es braucht eine radikalen Politik-Change, damit das Leiden aufhört. Doch hierzulande wird das Problem nur punktuell diskutiert: wenn ein Flüchtlingslager bombardiert wird wie im vergangenen Juli, wenn Entwicklungsminister Müller einen internationalen Rettungseinsatz fordert oder wenn die libysche Küstenwache Menschen in Lager nach Libyen zurückzwingt und die internationalen Seenotretter*innen das medial bekanntmachen. Derartige Aktionen der libyschen Küstenwache wären sonst nicht einmal in unserem Bewusstsein.

Libysche Patient*innen stark traumatisiert

Im Zentrum ÜBERLEBEN erfahren wir durch unsere Patient*innen in Erstgesprächen, wie massiv die Menschenrechtsverletzungen sind. Die Betroffenen sind durch die langjährige Flucht und die Erlebnisse in Libyen noch tiefer traumatisiert als sie es ohnehin schon waren. Viele hatten bereits in ihren Herkunftsländern Folter, Krieg und Verfolgung erlebt und darum ihre Heimat verlassen. Symptomatisch für diese schweren Traumatisierungen sind Ängste, Albträume, Getriebenheit, Schlafstörungen, Depressionen, aggressives oder autoaggressives Verhalten bis hin zum Suizid. Eine Traumatisierung ist quälend und verhindert ein angstfreies, selbstbestimmtes und gesundes Leben. Sie kann sich sofort zeigen, aber auch erst Jahre nach den verursachenden Ereignissen aufbrechen und sichtbar werden. Immer mehr Patient*innen, die bei uns Hilfe suchen, sind bereits seit Monaten oder Jahren ohne ärztliche bzw. therapeutische Betreuung in Deutschland. Die Folgen sind komplexe chronifizierte Krankheitsverläufe, die noch langwieriger behandelt werden müssen.

Recht auf Behandlung in Deutschland nicht garantiert

An diesem Punkt geht das Drama für die schwer erkrankten Menschen hierzulande weiter. Sie haben bei uns ein verfassungsrechtlich garantiertes Recht auf Behandlung, das in der Realität aber nicht umgesetzt wird – die Verletzung ihrer Grundrechte setzt sich fort.  Denn die komplexen und langwierigen medizinischen und psychosozialen Therapien, die so schwer erkrankte Menschen brauchen, sind bei den Kassen nicht immer abrechenbar. Dolmetscherleistungen, die im interkulturellen Kontext unerlässlich sind, werden bei Erkrankten, die unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, in der Regel recht problemlos von den Sozialkassen übernommen. Bei Geflüchteten mit Aufenthaltstitel werden diese Kosten von den Kassen nicht bzw. sehr beschränkt erstattet. Die Abrechnungsverfahren sind mit bürokratischem Aufwand und jahrelanger Verzögerung verbunden. Insofern haben diese Patient*innen so gut wie keine Chance, in der Regelversorgung, also ambulant in Praxen oder in Kliniken, adäquat versorgt zu werden. Auch in der Ambulanz für Erwachsene im Zentrum ÜBERLEBEN sind die Behandlungskosten nur zu 20 % von den Kassen gedeckt. Der Rest muss durch Spenden und Projektfinanzierungen getragen werden.

Wir helfen, doch unsere Kapazitäten reichen lange nicht aus – der Bedarf ist viel höher. Darum bauen wir unsere Angebote für komplex traumatisierte Menschen aus. Und wir setzen uns dafür ein, dass unser Gesundheitssystem flexibler und an die Bedarfe dieser schwer kranken Menschen angepasst wird, damit Patient*innen unkompliziert in die für sie geeigneten Versorgungsstrukturen weitergeleitet und ihre Behandlungskosten von der KV erstattet werden. Nur dann können die Betroffenen ihr Recht wahrnehmen und in unserem Land professionelle Hilfe bekommen.

Radikales Umsteuern der EU notwendig

Zum Internationalen Tag der Menschenrechte fordern wir, dass die EU vor dem Hintergrund der europäischen Menschenrechtskonvention ihre Verantwortung sieht und alles unternimmt, damit Gewalt und Folter gegenüber Geflüchteten und Migrant*innen in Libyen beendet werden. Die Kooperation der EU mit einem fragilen Staat wie Libyen, der keine Kontrolle über kriminelle und gewalttätige Milizen hat, verschärft die Lage insbesondere von Migrant*innen und Geflüchteten massiv. Die Auswirkungen der europäischen Migrations- und  Grenzpolitik werden uns im Kontakt mit den Patient*innen sehr deutlich. Trotz der wiederholten Evakuierungen durch die UN bleibt die Situation dramatisch und die Menschen werden schwer krank.

Politischer Wille für legale Fluchtwege gefragt

Wie viele Migrationsexpert*innen sehen auch wir einen Lösungsansatz darin, dass die EU mehr Möglichkeiten für legale Fluchtwege einräumt. Dafür sind massive Investitionen in Resettlementprogramme, in eine europäische Seenotrettung sowie in den Ausbau des Familiennachzugs nötig. Auch die Ausgabe humanitärer Visa wäre ein weiteres Instrument, das sogar vom EU-Parlament vorgeschlagen wurde. Es gibt Wege und Möglichkeiten, um die Situation für die notleidenden Menschen zu entschärfen. Bisher fehlt der politische Wille unserer Entscheidungsträger*innen. Es ist höchste Zeit, dass sich daran etwas ändert.

 

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Foto: sam-burriss/unsplash