Jahresbericht 2022/2023

Trauma und Gerechtigkeit

Prozess gegen Staatsfolter in Syrien

Es begann im Februar 2015. Anwar R., ein ehemaliger Offizier des syrischen Militärischen Geheimdienstes betritt eine Polizeiwache in Berlin. Sein Anliegen? Er möchte Anzeige erstatten. Behauptet, syrische Regierungsleute würden ihn verfolgen und wollten ihn entführen. Beweise für seine An­schuldigungen findet die Polizei keine. Stattdessen haben sie nun ein neues Ziel ins Auge gefasst: Anwar R. selbst.

Fünf Jahre später wurde im April 2020 in Koblenz der weltweit erste Prozess wegen Staatsfolter in Syrien eingeleitet. Die Untersuchungen der Polizei hatten ergeben, dass Anwar R. eine leitende Position in der Folteranlage Al-Khatib in Damaskus innehatte. Er und sein Mitarbeiter Eyad E. wurden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Insgesamt 4.000 Fälle von Folter und der Mord an 58 Menschen sowie zahlreiche sexuelle Übergriffe werden Anwar R. vorgeworfen. Die Zahlen sind erschreckend, die Vollstreckung des Prozesses ein wichtiges Zeichen, um diese Verbrechen zu verurteilen. Einmal im juristischen Sinne – aber auch, um den Opfern ein Signal der Gerechtigkeit zu geben.

„Die Frage ob und wieviel Gerechtigkeit, oder besser gesagt strafrechtliche Verfolgung, ‚heilen‘ kann, fragen wir uns immer wieder in unserer täglichen Arbeit am Zentrum ÜBERLEBEN. Im therapeutischen Prozess zumindest kann die Möglichkeit, eine Zeugenaussage zu machen das Ziel unterstützen, sich weniger hilflos zu fühlen und die Gefühle von Ohnmacht und Ausgeliefertsein zu überwinden. Die therapeutische Begleitung der Menschen, die eine Zeugenaussage machen, kann außerdem dazu beitragen, das Risiko zu minimieren, retraumatisierende Situationen in der Befragungssituation oder vor Gericht erleben zu müssen.“

Dr. Tanja Waiblinger,
Leiterin der Ambulanten Abteilung für Erwachsene

Das Zentrum ÜBERLEBEN hatte in diesen Rahmen ein Kooperationsprojekt mit dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) gestartet. Das ECCHR unterstützte bei den Al-Khatib-Verfahren 29 Folterüberlebende aus Syrien, darunter 14 als Nebenkläger:innen. Außerdem dokumentierte die Menschenrechtsorganisation Prozessberichte sowie Zeug:innenaussagen.

Interviews mit Zeug:innen können mehrere Stunden andauern. Handelt es sich dabei um traumatisierte Menschen ist ein sensibler Umgang entscheidend, um Retraumatisierungen oder Flashbacks zu verhindern. Im Rahmen der Zusammenarbeit haben wir den Jurist:innen durch Supervisionen und Fortbildungen zum Thema Traumata das erforderliche Know-How an die Hand gegeben, damit sie auf den Umgang mit traumatisierten Zeug:innen vorbereitet sind. Dadurch sollten sie rechtzeitig erkennen, wenn traumatische Erinnerungen getriggert wurden, um keine emotionalen Grenzen zu überschreiten. Umgekehrt haben Mitarbeitende des ECCHR Zeug:innen im Bedarfsfall an das Zentrum ÜBERLEBEN verwiesen, um ihnen zu helfen, den Anschluss an eine psychotherapeutische Behandlung zu finden, wenn sie das wollten.

Seit 2002 können in Deutschland Prozesse aufgrund von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen durchgeführt werden. Auch wenn die Tat im Ausland geschehen ist und Täter:innen sowie Opfer keine deutschen Staatsbürger:innen sind. Dieser Grundsatz ist auch als Weltrechtsprinzip bekannt. Begründet wird es mit der Schwere jener Verbrechen, die gegen dieses Weltrechtsprinzip verstoßen.

Für Anwar R. hat das Weltrechtsprinzip eine lebenslange Gefängnisstrafe zur Folge. Auch wenn es sich bei ihm um nur einen unter vielen staatlichen Straftäter:innen aus Syrien handelt, ist dies ein wichtiges Zeichen für Rechtsstaatlichkeit und gegen Menschenrechtsverbrechen. Der Koblenzer Prozess kann zwar das erfahrene Leid nicht ungeschehen machen, doch zumindest kann es den Opfern hoffentlich ein Stück weit das Gefühl von Gerechtigkeit zurückgeben.

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