Weltflüchtlingstag 2024

Abschiebungshaft – Gefangen ohne Straftatbestand

20.6.2024

Es ist mitten in der Nacht. Ohne Vorwarnung klopft es an der Tür, sie wird aufgebrochen. Polizeikräfte betreten Ihr Zuhause und nehmen Sie fest. Bringen Sie in eine Haftanstalt. Dort bleiben Sie fast einen Monat, ohne Kontakt zur Außenwelt. Ein Straftatbestand liegt nicht vor. Der Grund für die Festnahme? Abschiebungshaft. Nach vier langen Wochen in Isolation erfolgt die Abschiebung ins Heimatland.

„Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.“ – Mit diesem Satz setzte Bundeskanzler Olaf Scholz letztes Jahr ein Statement, das noch lange nachhallen sollte. Er zeigte damit deutlich, wohin sein Regierungskurs steuert. Am 27. Februar diesen Jahres folgte das sogenannte „Rückführungsverbesserungsgesetz“, das unter anderem eine menschenrechtlich bereits bedenkliche Praxis wie die Abschiebungshaft weiter verschärfte. So wurde die maximale Haftdauer bei Abschiebe-Szenarien nochmal deutlich verlängert – von maximal drei auf nun sechs Monate.[1]

Im Zentrum ÜBERLEBEN bekommen wir die Konsequenzen dieser rechtsstaatlich fragwürdigen Maßnahmen hautnah mit: Im April wurden eine besonders schutzbedürftige Patientin unserer Tagesklinik und ihr minderjähriges Kind unerwartet in Abschiebungshaft genommen und abgeschoben. Von einem auf den anderen Tag hatte man damit ihre Lebensrealitäten rücksichtslos zerschlagen. Wenig überraschend wurde im Nachhinein von uns festgestellt, dass die Abschiebung rechtswidrig gewesen sein könnte und nochmal geprüft werden muss. Die Lebensgrundlage und psychische Gesundheit unserer Patientin und ihres Kindes wurden so oder so nachhaltig geschädigt. Und erschreckenderweise handelt es sich bei solchen Vorfällen keinesfalls um Einzelfälle: Aktuell gibt es in Deutschland 16 Abschiebegefängnisse und zwei weitere werden gebaut.[2] Im ersten Quartal 2024 wurden 4.791 Menschen abgeschoben, rund ein Drittel mehr als im selben Zeitraum des Vorjahres.[3] In vielen Bundesländern werden über die Hälfte der Inhaftierten wieder freigelassen, da häufig im Nachhinein festgestellt wird, dass es sich um eine rechtswidrige Festnahme gehandelt hat.[4]

Die Abschiebungshaft wurde mittlerweile von Expert:innen aus dem Rechtsgebiet mehrfach und mit Nachdruck kritisiert.[5] Denn um jemanden in Abschiebehaft festzunehmen, reicht offiziell die Sorge, eine ausgewiesene Person könne vor der ihr drohenden Abschiebung untertauchen. Für die Frage, was genau man als Anlass für diese Sorge nimmt, bleibt viel Interpretationsspielraum. So haben in der Vergangenheit schon Aussagen gereicht, dass die betroffene Person nicht in ihre Heimat zurückwolle, um eine Abschiebehaft einzuleiten.[6]

Ihr Wunsch in Sicherheit zu leben wird Ihnen zum Verhängnis gemacht. Eingesperrt in einer Zelle starren Sie gegen die Wände und denken an Ihre unsichere Heimat, die Sie einst hinter sich lassen mussten, während durch ein kleines vergittertes Fenster Tag für Tag die Sonne auf- und untergeht.

Anders als bei Menschen in Untersuchungshaft, gibt es bei der Abschiebehaft auf vielen Ebenen keine klaren Regelungen zum Umgang mit den Inhaftierten bzw. ist die Regelungsbefugnis den Bundesländern überlassen und kann somit stark variieren. Es kann zwar zu jedem Zeitpunkt ein Anwalt als Verteidigung der ausreisepflichtigen Person hinzugezogen werden, es besteht aber anders als bei einem Strafverfahren nicht die Pflicht zu einer Verteidigung.[7] An dieser Stelle ist nochmals besonders zu betonen: Anders als bei Straftäter:innen, denen z.B. ein Verbrechen zur Last gelegt wird, rechtfertigt bei Ausreisepflichtigen nur der Vorwurf, dass sie nicht zurück in ihr Heimatland wollen, ihre Inhaftierung. Das wäre im Grunde maximal ein Verstoß gegen einen Verwaltungsakt. Dennoch werden sie im Umgang ebenso kriminalisiert und haben teilweise weniger Rechte als (mutmaßliche) Straftäter:innen in Untersuchungshaft.

Alternativ ist es auch möglich, ausreisepflichtige Menschen in eine Haftanstalt für Straftäter:innen einzuweisen – mit der Pflicht, sie getrennt von anderen Häftlingen unterzubringen. In Abschiebegewahrsam befinden sich die Geflüchteten unter strenger Überwachung und sind erheblich in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Oft dürfen sie keinen Kontakt zur Außenwelt haben und sind somit abgeschnitten von ihren Angehörigen. In solchen Fällen fühlen sich die Betroffenen komplett alleingelassen – eine Situation, die viel Leid erzeugt und, in der Schlimmes passieren kann.

Darüber hinaus gibt es weitere einschneidende Maßnahmen, die unter bestimmten Umständen erlaubt sind. Dazu gehören u.a. Fixierungen, bei der die Person an Händen und Füßen an ein Bett oder anderes Objekt festgeschnallt wird, wenn die Gefahr von selbstverletzendem Verhalten oder Suizidversuchen besteht. Die Fixierung soll demnach verhindern, dass Ausreisepflichtige sich ihrer Abschiebung entziehen, indem sie sich etwas antun. Statt zu ergründen, warum eine Person den Tod einer Abschiebung vorzieht, wird sie somit einer weiteren gewaltsamen Maßnahme unterzogen. Vollkommen ungeachtet der Tatsache, wie schädlich es für einen psychisch destabilisierten Menschen ist, an einem Bett festgeschnallt zu sein, um nicht Suizid begehen zu können. Menschen in solch einer prekären Situation benötigen dringend psychotherapeutische Unterstützung – und auf keinen Fall mehr Gewalt!

Was bedeutet Freiheit, wenn ich an jedem Ort verfolgt und eingesperrt werde? Wie soll ich Frieden finden, wenn es für mich keine Sicherheit gibt? Was bleibt mir noch, wenn mein eigenes Leben nicht mehr in meinen eigenen Händen liegt? – All diese Fragen kreisen in Ihrem Kopf, während Ihr Schicksal erneut in den Händen anderer liegt.

Die Bedingungen in Abschiebehaft sind vollkommen unverhältnismäßig und eine immense psychische Belastung für Menschen, die oft bereits in ihrer Heimat oder auf der Flucht traumatisierende Erfahrungen durchlebt haben. Deshalb möchten wir zum Weltflüchtlingstag über die fragwürdigen Praktiken und verheerenden Folgen von Abschiebungshaft für Geflüchtete aufklären und uns für die Einhaltung der Menschenrechte stark machen. Menschen wie unsere Patient:in und ihr Kind haben ihre Heimat nicht grundlos zurückgelassen. Dem ihnen zustehenden besonderen Schutzbedarf wird nicht nachgekommen, wenn sie eingesperrt werden, als hätten sie eine Straftat begangen. Unseren Auftrag als Behandlungszentrum sehen wir darin, Überlebende, die durch Folter, Kriegsgewalt, Flucht und Verfolgung traumatisiert sind, umfassend professionelle Hilfe zu bieten und ihre Bedarfe qualifiziert festzustellen. Damit möchten wir unseren Patient:innen ein menschenwürdiges Leben in einer vielfältigen, gleichberechtigten Gesellschaft ermöglichen.

„Zum Weltflüchtlingstag setzen wir ein Zeichen für das Recht auf Schutz für jeden Menschen. Ohne Ausnahmen. Wir dürfen nicht länger zusehen, wie asylsuchende Menschen in Deutschland auf eine Art und Weise behandelt werden, die jedem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit widerspricht. Der menschenunwürdige Umgang mit potentiell bereits traumatisierten Menschen verstärkt das Trauma. Abschiebungshaft und voreilige Abschiebungen sind keine Lösung, sondern ein Armutszeugnis für unseren Umgang mit den Schwächsten in der Gesellschaft.“ – Lena Lindner, Fundraiserin im Zentrum ÜBERLEBEN

.


.

Im Zentrum ÜBERLEBEN unterstützen wir Geflüchtete psychotherapeutisch und sozialarbeiterisch, die Schrecken ihrer Vergangenheit und den oft beängstigenden Alltag in Deutschland zu meistern. Unsere Arbeit hängt zu großen Teilen von Spenden ab. Ihre Spende anlässlich des Weltflüchtlingstags hilft unmittelbar, die Sicherheit zu schenken, die besonders schutzbedürftige geflüchtete Menschen so dringend benötigen

.


.

[1] https://www.proasyl.de/news/das-gegenteil-von-verbesserungen-das-neue-rueckfuehrungsgesetz-verschlimmert-die-lage/#:~:text=%C3%84nderungen%20gibt%20es%20mit%20dem,keine%20Abschiebungshaft%20angeordnet%20werden%20durfte

[2] https://www.labournet.de/interventionen/asyl/asylrecht/ausweisung/lagerhaltung/abschiebehaft-abschaffen-liste-aller-deutschen-abschiebungshaftanstalten/
https://www.sueddeutsche.de/bayern/passau-haftanstalt-abschiebung-fluechtlinge-soeder-1.5676673

[3] https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/abschiebungen.html

[4] https://www.lsfw.de/statistik.php
https://www.nds-fluerat.org/56970/aktuelles/kritik-an-abschiebungsplaenen-der-bundesregierung/

[5] https://www.deutschlandfunk.de/abschiebehaft-abschiebung-asylsuchende-fluechtende-100.html#:~:text=der%20Fachhochschule%20Dortmund.-,Welche%20Kritik%20gibt%20es%20an%20der%20Umsetzung%20der%20Abschiebehaft%3F,Strafvollzug%20bis%20zur%20Ununterscheidbarkeit%20%C3%A4hnelt

https://www.proasyl.de/news/es-ist-skandaloes-welche-fehler-in-abschiebungshaft-passieren/

https://anwaltverein.de/de/newsroom/pm-01-24-rueckfuehrungsgesetz-bedenken-bleiben-trotz-korrekturen

[6] Kaniess: Abschiebungshaft – Rechtshandbuch für die Praxis, 1. Auflage, S. 49.

[7] https://www.proasyl.de/pressemitteilung/gesetzesluecke-endlich-schliessen-menschen-in-abschiebehaft-brauchen-einen-pflichtanwalt/

vgl. § 10 Abs. 2 Satz 1 FamFG

* Der Schutz unserer Patient:innen ist uns wichtig. Deswegen arbeiten wir mit Anonymisierungen bei Persönlichkeitsdaten und Fotos.